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Marie Heurtin entdeckt den Schnee

“Die Sprache des Herzens” (Regie: Jean-Pierre Améris)

Von Angelika Nguyen

Der deutsche Titel des Films ist nicht nur pseudo-poetisch, sondern auch irreführend. Denn die Gebärdensprache, um die es geht, ist in Wirklichkeit eine Sprache des Körpers und somit sehr sinnlich. Daher seit Beginn des 19.Jahrhunderts von aufmerksamen Sittenwächtern als “obszön” verfemt und verboten, wurde sie von taubstummen Menschen natürlich trotzdem weiter benutzt und entwickelt und tatsächlich erst 1991 offiziell erlaubt.
Der französische Originaltitel lautet schlicht: “Marie Heurtin”.
Das ist der Name des 14jährigen Mädchens, das im Film von der Nonne Marguerite jene Gebärdensprache erlernt und damit aus seinem taub-stumm-blinden Gefängnis ausbrechen kann. Das schreibt sich leicht hin, für Schwester Marguerite ist es zunächst Schwerstarbeit. Ungefähr die Hälfte des Films über bleibt Marguerites Beharrlichkeit unbelohnt. Nicht selten hat sie nach einem langen Tag, an dem sie versucht hat, Marie anzukleiden, zu füttern, zu kämmen und ihr gar die Gebärdensprache in die Hände zu schreiben, nichts als Schläge und Tritte von dem temperamentvollen Mädchen bekommen, eine Überschwemmung im Badezimmer oder Aufruhr unter den anderen taubstummen Zöglingen im Speisesaal.

Der Stoff des Films ist alt. Spätestens seit der bürgerlichen Aufklärung und dem ihr verbundenen Erziehungsideal ist die Zähmung des Wilden nach den Regeln der Vernunft auch ein sinnbeladenes Thema für die Kunst. Anders jedoch als in der Kaspar-Hauser-Legende oder in Francois Truffauts Pädagogik-Experiment “L’enfant sauvage” (“Das wilde Kind”) geht es hier nicht um Erziehung. Die Besonderheit dieses Films besteht in der Idee, dass nicht nur die absonderliche Marie Heurtin von Schwester Marguerite etwas lernen kann, sondern auch Marguerite von ihr. Es geht, wie Regisseur Jean-Pierre Améris sagt, nicht um Handicaps, sondern um Kommunikation. Sorgfältig, manchmal in notwendig langen Szenen ohne Schnitte, beschreibt er die Annäherung zweier Menschen, denen, aus ganz unterschiedlichen Welten kommend, schließlich nicht nur der intensive Austausch, sondern auch eine Mutter-Tochter-Liebe gelingt, eine tiefe Bindung, die alles überlebt. Mit klug gezieltem Einsatz auditiver Mittel, mal nur von Szenen-Original-Tönen, mal von abhebender Musik. Da raschelt gestärkter Kleiderstoff, da atmen manchmal nur zwei Menschen oder schlägt sich Marie im Widerstand laut klirrend durch eine Glasscheibe.
Am Anfang war die Berührung zweier Hände. Marie wird zu Beginn des Films von ihrem ratlosen Vater zu einer Einrichtung für taubstumme Menschen gebracht. Von Geburt an beraubt gleich dreier Sinne, sozial isoliert und körperlich verwahrlost, sitzt Marie dann in einem Baum, wohin sie vor all den Leuten geflohen ist.
Da klettert Marguerite zu dem Mädchen hinauf und legt nur ihre Hand auf Maries Hand - und bekommt eine Antwort. Körperberührung als Sensation.
Dann geht es aber erst los. Wohl 50 oder 100 Mal sagt Schwester Marguerite das Wort “couteau” (“Messer”) in allen möglichen Tonarten zu dem verschlossenen Mädchen, bis es uns in den Ohren klingt und schreibt das Wort zugleich in Gebärdensprache in Maries Hände, ohne Erfolg. Statt dessen wehrt sich Marie öfter mit Gewalt. Die ausweglose Situation der Filmheldinnen wird ausgereizt, bis wir Zuschauer selber ganz erschöpft sind. Die Dramaturgie baut darauf, dass wir um den kommenden Wendepunkt ja eigentlich zuverlässig wissen. Die Frage ist, wo, wann und wie. Es passiert im Speisesaal, als Marguerite zum 101.Mal “couteau” flüstert, da wird die Taubblinde plötzlich wach. In einem langen Moment schreibt sie das Wort in ihre Hände. Wieder eine Sensation.
Der Film, stilistisch vollendet, bezieht wohl einen Teil seiner Wirkung aus einer Art Authentizität: Es gab wirklich eine taubblinde Marie Heurtin, die im Jahre 1895 “sprachlos” im Institut Larnay bei Poitiers aufgenommen, unterrichtet und später selber Lehrerin wurde. Gerade die historische Zeit wirkt atmosphärisch mit - durch das Drehen an Originalschauplätzen mit sorgfältig rekonstruiertem Interieur jener Zeit aus Materialien wie Holz, Zink, Leinen. Im Halbdunkel des echten Gemäuers von Larnay lässt sich die Geschichte filmisch desto besser erleben.
Die Beziehung der beiden Frauenfiguren lebt auch von der Spannung zwischen Laie und Profi –Ariana Rivoire (als Marie Heurtin) ist wirklich taub-stumm, nur die Blindheit ihrer Figur musste sie sich antrainieren, ein robustes darstellerisches Naturtalent mit manchmal fehlender professioneller Kontrolle der Gefühle - wie Isabelle Carré, die Darstellerin der Marguerite, berichtet: so mancher blauer Fleck am Ende eines Drehtages war echt. Als gelernte Schauspielerin besitzt Carré wiederum zur Genüge die Kontrolle über ihre Arbeit - ihr zartes durchscheinendes Gesicht spiegelt die starken Gefühle der Nonne - Beharrlichkeit, Erschöpfung, Furcht, Glück. Der Film erzählt das als Tagebuch Marguerites. Sie, nämlich, erfährt durch das fremde Mädchen ebenfalls Neues. Jemandem körperlich ohne Scheu nahe zu sein, muss sie erst lernen. Denn Marie kann ihre Förderin nur mit den Händen ansehen, tastet immer wieder lange deren Gesicht und Körper ab.
Einmal entdeckt Marie im Hof, was Schnee ist, sie spürt ihn auf dem Gesicht und den Händen, sie staunt, eine kurze Szene, aber hinreißend - und einer der größten Kino-Momente 2015, so viel ist schon sicher. Zusammen mit einer Ansprache Maries am Ende des Films, in Gebärdensprache, deren Virtuosität erfreut - und schmerzt. Die Kamera hebt ab, in den Himmel, grüßt von oben.

Christopher Buchholz sagte in seiner Vorrede auf der Französischen Filmwoche in Berlin, er habe noch nie so geweint wie bei diesem Film. Gemurmel im vernunftbegabten Publikum, Abwehr. Na, na.
Hinterher wusste man, was er meint.

A.S.H. | 08.01.15 18:26 | Permalink