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Auf den Euro hat niemand gewartet

Von Jenz Steiner

Der frisch gefischte Ostseefisch zappelt, zuckt und schnappt nach Luft. Es ist der 31. Dezember 2013, der letzte Tag, an dem man im Centrāltirgus, den großen Markthallen in Riga, Schollen, Flunder und Makrelen mit Lats bezahlen kann. Die Euro-Einführung steht vor der Tür, doch die „Europhorie“ hält sich sehr stark in Grenzen. Hunderte Aale schieben sich in Zeitlupentempo durcheinander und sterben einen langsamen Tod. Im Eingangsbereich der Markthallen sollen Umrechnungstabellen beim Umdenken helfen. Für die meisten Letten, die hier einkaufen und arbeiten, ist es die dritte Währungsreform, die sie miterleben.

Mit der Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion verschwand 1991 der alte Rubel und machte vorerst dem lettischen Rubel Platz. Die Wiedergeburt des hochwertigen Lats erlebten die Letten 1993. Die alte Währung kannten sie bis dahin weniger aus den Geschichtsbüchern, sondern eher aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Zwischen 1922 und 1940 war der Lats im Kurs 1:0,81 an die Reichsmark gekoppelt.

Vor den Geldautomaten mit Einzahlfunktion der vielen skandinavischen Banken stehen lange Schlangen. Alle wollen ihre Bargeldreserven rechtzeitig loswerden. Manche Automaten streiken. Das Display zeigt nur noch verwaschene Farben an. „Den Fünf-Lats-Schein heben wir uns auf - zur Erinnerung“, sagt eine Frau zu ihrer Tochter. Für ihren letzten Lats-Fünfer und die ersten fünf Euro hat sie extra einen hübschen Rahmen gekauft. Die Farben der Scheine unterscheiden sich kaum, oben der lettische Baum, unten das europäische Brückenteil.

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Dass der Euro irgendwann kommen würde, stand seit Lettlands EU-Beitritt 2004 fest. 2005 wurde der Lats an den Euro gekoppelt. Ein Euro waren von nun an 0,702804 Lats. Der hohe und recht stabile Wechselkurs verhalf dem damaligen Zentralbankchef und Ministerpräsidenten Einars Repše zu großer Popularität. Er galt als der große Kämpfer gegen Korruption und Geldverschwendung, bis er 2005 wegen einer Finanzaffäre selbst den Hut nehmen musste.

Für die Letten war der starke Lats bislang ein Sinnbild der Souveränität des krisengeschüttelten Landes. Erst 2009 stand das Land kurz vor dem Staatsbankrott. Der konnte nur durch EU- und IWF-Notkredite in Milliardenhöhe abgewendet werden. Seither muss die lettische Regierung einen harten Sparkurs fahren. „Interne Abwertung statt Kursverfall“ hieß die Zauberformel. Das bekamen besonders die Angestellten im öffentlichen Dienst und die Kulturschaffenden zu spüren: Gehaltskürzungen und Einstampfen großer Projekte für die Kulturhauptstadt Riga 2014.

Wer kann, geht. Daran hat sich bis heute nichts geändert, denn vom leichten Wirtschaftswachstum um 5,5 Prozent nach dem Wüten der Krise merkt die Bevölkerung nichts. Fährt man heute durch Lettland, trifft man auf leer gefegte Kleinstädte im Dornröschenschlaf - sauber, gepflegt und mit gut ausgebauter Infrastruktur und sehr schnellem Internet. Doch hier passiert vorerst nichts. Bereits 2008 wanderten etwa zehn Prozent der arbeitsfähigen Menschen nach Großbritannien, Deutschland, Irland und Norwegen aus. Die Gesamtbevölkerung sank auf zwei Millionen Menschen. Kein Wunder, denn wer in Lettland lebt, hat meist eine hochqualifizierte Ausbildung in der Tasche, verdient aber nur zwischen 280 und 650 Euro im Monat. Das geht aus einer Veröffentlichung des Zentralen Lettischen Statistikbüros CSB und dem Migration Bulletin der Warschauer Universität hervor.

Die offizielle Propaganda nutzt immer dieselben Phrasen, um den Letten die Euro-Einführung schmackhaft zu machen. Der Euro würde Investoren nicht mehr vor Lettland zurückschrecken lassen. Das sei beim baltischen Nachbarn Estland auch so gewesen. Tatsächlich erweitert sich aber nur der Absatzmarkt westlicher Produkte in Richtung Osten.

Auf der Straße hört man andere Töne als in der Saeima, dem lettischen
Parlament: „Wir fühlen uns wie eine Kolonie der Norweger, Schweden und Dänen. Die eröffnen hier ihre Banken und kaufen hier Immobilien wie wir eine Packung Kaugummi im Supermarkt“, meint ein älterer Lette auf dem Markt. Doch die Stimmung im Land ist ruhig. Die verbliebene Bevölkerung hält die Füße still. Weder Parteien noch Gewerkschaften wagten es in den letzten Jahren, gegen den vom IWF aufgedrückten Sparkurs aufzumucken.
Statt sich Kämpfe mit der Polizei zu liefern, feierten die Letten den Jahreswechsel am Ufer der Daugava mit einem großen Volksfest: Konzerte, Feuerwerke, gute Stimmung-

Genau 22 Uhr, Mitternacht in Moskau, begann auf den Straßen Rigas das erste große Feuerwerk, jedoch nicht auf Staatskosten. Mit einem halbstündigen Dauerfeuer verlieh sich die große russische Stadtbevölkerung Rigas eine Stimme. Auf den Straßen wurde die russische Nationalhymne gesungen. Die hören die Letten nicht gern. Das Zeigen und Tragen russischer und sowjetischer Hoheitssymbole wird in Lettland ähnlich geahndet wie ein Hitlergruß oder eine Hakenkreuz-Armbinde am Arm in Deutschland.

Putins Neujahrsansprache auf dem ersten russischen Kanal wird in Riga mindestens so stark wahrgenommen wie die des lettischen Staatsoberhaupts.
Nach den Anschlägen in Wolgograd war der Ton der Ansprache in diesem Jahr deutlich schärfer und aggressiver als im Vorjahr.

Über die Hälfte der Rigaer ist mit Russisch als erste Muttersprache aufgewachsen. „Noch vor zehn Jahren sprachen wir zu Hause zu zwei Dritteln Russisch und zu einem Drittel Lettisch. Langsam verschiebt sich das und wir sprechen mehr Lettisch“, berichtet ein Klempner in der nordwestlichen Vorstadt. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, das Lettische nicht ordentlich beherrscht und von selbsternannten Sprachschützern überführt und angezeigt wird, muss mit dreistelligen Geldstrafen rechnen.

Unabhängigkeitsliebe, Patriotismus, Russenhass und ein Hang zum Mythenhaften, zum Urbaltischen sind unter den Letten weit verbreitet.
Überall im Rigaer Stadtbild trifft man auf das Ugunskrusts, das Feuerkreuz
- ein stilisiertes Hakenkreuz, oder auf das Jumis, ein zweihakiges Fruchtbarkeitskreuz, mal auf den Lats-Banknoten, mal als Laubsägearbeit auf dem Weihnachtsmarkt, mal als Handschuh- und Mützenmuster oder Deko-Element auf den Holzstühlen im Selbstbedienungsrestaurant. Die sowjetische Vergangenheit wurde hingegen weitestgehend aus dem Stadtbild verbannt, zweisprachige Straßenschilder erst überpinselt, dann ausgetauscht. Nur die großen Supermarktketten Maxima, Prisma und Iki veröffentlichen ihre Werbeprospekte zweisprachig, in lettischer und kleingedruckter russischer Sprache.

Knapp zwei Stunden nach Putins Ansprache flimmerte die Neujahrsansprache des Rigaer Bürgermeisters Nils Ušakovs über die Bildschirme. Ušakovs ist russischer Abstammung. Deswegen wird der aalglatte ehemalige Fernsehjournalist nicht von allen Letten gemocht. Seine Vorstöße in der Stadtpolitik, etwa die Einführung des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs ab 2014 nach Talliner Vorbild, wird von vielen Menschen als reiner Populismus abgestempelt. Danach ist Präsident Andris Bērziņš an der Reihe.
Den Nachbarn vor dem Fernseher kommen nur Unmutsrufe über die Lippen: „Der hat uns an die EU verkauft und streicht sich die Gelder aus Brüssel ein.“ Dann erklingt die Nationalhymne, diesmal die lettische und wieder singen alle mit: „Gott segne Lettland, unser teures Vaterland“. In der ersten lettischen Nachrichtensendung im neuen Jahr wird Bērziņš gezeigt, wie er als erster Lette einen Euro-Schein aus einem Geldautomaten zieht.

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Ab dem ersten Januar sind alle Preisschilder umgestellt. Der kleine Euro-Preis ist jetzt der große, der teure Preis. Die Schlangen in den Supermärkten sind länger, da die Kassiererinnen etwas Zeit zur Umgewöhnung brauchen. Die Rigaer Wappenlöwen auf den alten und nun kostenlosen Tatra-Straßenbahnen halten das Stadtwappen und schauen schützend nach Ost und West. In den Zentralmarkthallen sterben wieder neue Ostsee-Fische ihren langen Tod, den die Rigaer von nun an in Euro bezahlen.

A.S.H. | 08.01.14 17:14 | Permalink