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Catherine, Miss Peace und Kinder ohne Kitsch

Angelika Nguyen blickt auf die Französische Filmwoche in Berlin

Sie geht am Strand entlang, dicht hinter ihr die Kamera, so dicht, dass man die blonden Haare einzeln wehen sieht, minutenlang. Sie geht und geht, und so lange man sie von hinten sieht, ist es irgendeine Frau, erst als sie den Kopf zum Profil wendet, wird die Linie erkennbar, gealtert, aber immer noch diese Linie, berühmt aus mehr als 100 Filmen französischer Kinogeschichte: das Gesicht von Catherine Deneuve, Jahrgang 1943. So am Wasser entlang geht ihre Figur Bettie aus “Elle s’en va” (deutscher Titel ”Madame empfiehlt sich”), bevor das Roadmovie beginnt. Weg von ihrem schlecht laufenden Restaurant, der Wohnung mit der nervenden Mutter, dem Liebeskummer fährt Bettie einfach geradeaus, wohin weiß sie nicht, einfach weg. Was ihr da alles begegnet, sind mehr als Stationen auf einer Reise ins Unbekannte, es ist die Dramaturgie des Schicksals.

Der Deneuve ist auf den Französischen Filmtagen in Berlin eine Hommage gewidmet.
Die Retrospektive ihrer Filme von 1964 bis 2013 ist ausgesucht nach Vielfalt und Wiedererkennung. Das Besondere an der Deneuve ist jedoch nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Catherine Deneuve, die einst blutjung vor der Kamera sang und tanzte (“Die Regenschirme von Cherbourg” 1964), bei Roman Polanski eine schauspielerische Tour de Force absolvierte als junges isoliertes Mädchen, das verrückt wird (“Repulsion” – “Ekel” 1965), die bürgerliche Dychotomie verkörperte wie kaum eine zweite (“Belle de Jour” 1967), vornehm Résistance und Liebeswirren vereinen konnte (“Die letzte Metro” 1980), ihre nach eigener Aussage “vietnamesische Seele” in einem malerischen Epos ausleben konnte (“Indochine” 1992) und sich sogar noch auf formale Experimente eines jungen Regisseurs einließ (“Dancer in the Dark” 2000), begann 2002, knapp 60jährig ein zweites Leben vor der Kamera – zunächst als eine der “8 Frauen” in Francois Ozons grandiosem Krimi-Musical. Deneuves Zartheit war verschwunden. Sie hatte zugenommen und um die Konturen ihres klassisch schönen Gesichts musste man plötzlich fürchten. Das enge rote Kleid drohte bei jeder Bewegung zu platzen. Ihr Blick war müder geworden, erfüllter auch. Ihre Melancholie, die sie schon in “Ekel” ausstrahlte und ihre Aura von Einsamkeit, jetzt verbunden mit der Freundlichkeit des Alters, sind geblieben. Welch eine Verwandlung! Und welch ein Vorbild! Catherine Deneuve zeigte, dass es ein Leben nach der Prinzessinenzeit gibt. Mit jedem neuen Film, den sie seither dreht, bezwingt sie die Vergänglichkeit, risikiert den Vergleich mit ihrem jungen Abbild - und macht es zunichte. Sie wagte die Wiederbegegnung nach 30 Jahren mit dem einstigen Geliebten Gérard Depardieu (“Les temps qui changent” 2004), lachte gemeinsam mit ihm über ernsthaftes Kino in “Asterix & Obelix – Im Namen Ihrer Majestät” 2012, erzählte 2011 eine problematische Mutter-Tochter-Beziehung mit ihrer eigenen echten Tochter Chiara Mastroianni (“Les Bien-aimés”) und bilanzierte das schmerzhafte Verlustgeschäft mit dem Altern als Bettie in “Elle s’en va” 2013, die einst Miss Bretagne war und nun für einen Werbekalender mit caritativem Zweck posieren soll, dramatische Begegnungen mit Mutter, Tochter und Enkel hat – und unverhofft die Liebe findet. Die Filmtochter sagt erschöpft zu Bettie: “Du bist noch schöner geworden. Du wirst im Sarg noch schön sein.” Entschuldigend blickt die Mutter sie an. Es ist Deneuves Erfahrung um die Vergänglichkeit von Schönheit, die sie heute schön macht.

Catherine Deneuve bekommt immer noch Traumrollen – und neulich den Europäischen Filmpreis für ihr Lebenswerk.

Aber auch jenseits der Hommage ist die Französische Filmwoche voller Geschichten. “Cyanure” schildert aus der Sicht des Kindes Achille seine von Gefängnis und Trennung zerrüttete Familie, inszeniert die Angstträume des Jungen als Comics, macht die Phantasie des Kindes zur Erzählachse des Films und spart auch nicht mit Härte, als der zurecht geträumte Vater aus dem Gefängnis entlassen und Wirklichkeit wird. Als Achille die Eltern beim Sex überrascht, ruft er fröhlich durchs Fenser: “Macht mir eine Schwester!” und beschafft mit derselben Selbstverständlichkeit später seinem Vater Zyankali. Ebenfalls um die Beziehung eines Jungen zu Familie und vor allem zu Maman geht es in “Maman und ich”, wo eine Mutter nicht akzeptiert, dass ihr drittes Kind schon wieder ein Sohn ist. So spielt der Sohn ihr die Tochter, in dieser gefeierten Coming-of-Age Geschichte besonderer Art. Ein ganz leiser Film ist “La Tendresse - Zärtlichkeit”, der in bewusster Langsamkeit von einer eher unspektakulären Begegnung zwischen zwei Eltern, die sich vor 15 Jahren getrennt haben und bei der Abholung ihres skiverletzten Sohnes entdecken, wie nah sie sich noch sind – ohne jede TV-Happy-End-Kleisterei.
Überhaupt fehlt auf der Französischen Filmwoche jede Art von Kitsch: die der romantischen Liebe genauso wie der Klimbim unbeschwerter Kindheit jenseits der Erwachsenenwelt. Es fehlte bei den beiden Spielfilmen über Selbstmordattentate ebenfalls jede Verharmlosung der Verhältnisse für arabische Jugendliche in den Banlieus Frankreichs. “La Dèsintegration” erzählt, wie leicht die Radikalisierung von Ali Aouzi aus Lille vonstatten geht - nach 40 Ablehungen um einen Praktikumsplatz und dem Gefühl, zwar französischer Staatsbürger, aber nur zweiter Klasse zu sein. “Dieses Land braucht euch nicht”, sagt ihr Dschihad-Lehrer.”Also braucht ihr es auch nicht mehr.” Die Gehirnwäsche hat ihre Logik und ist so gefährlich wie ihre Merksätze einfach sind. Dennoch hat man die Motivationen für Selbstmordattentate schon eindringlicher im Kino erzählt gesehen. Allein Radikalisierung zu zeigen, ohne Zweifel, Widersprüche, Umkehr und so was wie Hoffnung wirkt mitunter belehrend.

Der vielleicht bewegendste Film der Woche ist die französisch-kanadisch-israelische Koproduktion “Une bouteille à la mer”, in der Frankreich nur indirekt, als Land der Verheißung mitten im Konflikt zwischen Israel und Palästinensern eine Rolle spielt. In Tel Aviv wirft ein israelischer Soldat die Flaschenpost seiner Schwester Tal Levine ins Meer. Die 17 jährige Tal geht, nachdem sie einem Selbstmordattentat in einem Tel Aviver Café entkam, der Frage nach, warum Palästinenser so etwas tun. Diese Frage steht in der Flaschenpost, mit einer Emailadresse. Naim Fardjouki, der mit seinen Kumpels in Gaza gelangweilt die Nachricht findet und sich erst wie alle darüber amüsiert, geht in ein Internetcafé und schreibt Tal. Klingt irgendwie kitschig.

Aber sehr genau erzählt der Film die Überwindung der Vorurteile bei Naim und Tal selbst, des Widerstandes in ihren Köpfen und ihrer jeweils eigenen Leute. Erst sind die Emails nur ironischer Schlagabtausch, er nennt sie Miss Peace, sie ihn Gazaman.
Allmählich aber bauen sie Vertrauen auf, schreiben ihre richtigen Namen, senden Bilder. Während Tal hat ihren eigenen Laptop hat, muss Naim in die Internetcafés, die von den Hamas beobachtet werden. Er wird verdächtigt, gschlagen, bedroht. Tal erfährt indes in der Krise neuer Attentate die Ablehnung ihrer Eltern. Die Handlung ist konkret angesiedelt zwischen Bulldozerangriff in der Jaffa-Straße und israelischer Offensive 2009 in Gaza. Wegen Tal, die eigentlich aus dem französischsprachigen Kanada kommt, lernt Naim Französisch. Als er mit einem Stipendium nach Frankreich ausreisen darf, macht der Film daraus ein spanndendes Showdown. Tal rast durch Jerusalem zum Checkpoint, parallel die Prozedur der Grenzüberschreitung, die irreversiblen Drehscheiben, Zäune, die meterhohe Mauer nach Jerusalem. Was dann geschieht, ist wieder kein Kitsch, sondern großes Kino. Für Sekunden sehen sich Naim und Tal in Wirklichkeit, werden sie sich wiedersehen? Leider hat der Film noch keinen deutschen Kino-Verleih .

Die eigentlichen Helden des französischen Kinos aber sind die Kinder. Seit Francois Truffaut 1959 in seinem Antoine-Doinel-Film “Streiche und Schläge” Kinder als eigenständige Menschen agieren ließ, sind sie echte Charaktere im französischen Erzählkino. Ihre natürliche Perspektive als Außenseiter liefert Stoff für Poesie, ihre Beobachtungsgabe macht sie zu perfekten Skeptikern. Man darf ihnen getrost Verantwortung übertragen – und sich ihrer Sorge um die Erwachsenen sicher sein. So beginnt der visuell atemberaubende Kinderfilm “Belle et Sébastian” in der Sondervorführung der Filmwoche mit einer Szene wie aus “Mission Impossible”: Der kleine Sébastian (6) hängt über einem Abgrund am Rande der Alpen, nur mit dem Seil gehalten vom Großvater, der ihn ein Zicklein retten lässt. Das Waisenkind Sébastian, dessen Darsteller Felix Bossuet unter 2000 Kindern ausgesucht wurde, agiert mit einer absoluten Autonomie in diesem Résistance-Film besonderer Art. Ganz allein findet er den riesigen schneeweißen Hund, der vom halben Ort als “Bestie” verfolgt wird und nennt ihn trotzig “Belle”. Wie der Junge in den Widerstand gegen die deutsche Besatzung - der Film spielt 1943- einbezogen wird, wie er den Tod der Mutter und gravierende Vertrauensbrüche verkraften muss und wie Boussuet das spielt und trotzdem optisch das Kindchenschema bedient, das ist selbst für französische Verhältnisse außergewöhnlich und grandios.

Viele der Filme kommen Ende 2013 und im Laufe von 2014 in die deutschen Kinos, insofern läuft die Französische Filmwoche eigentlich einfach weiter.

A.S.H. | 11.12.13 13:20 | Permalink