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“Das Haus hat gar keinen Keller.”

“Die Jagd”, Regie: Thomas Vinterberg

Von Angelika Nguyen

Von Anfang an ist dem Publikum klar: Die kleine Klara lügt. Sie erzählt Grete, der Kindergartenleiterin, dass der Betreuer Lucas sie sexuell missbraucht hätte. In Wirklichkeit ist Klara in Lucas verliebt und fühlt sich von ihm zurückgewiesen, in Wirklichkeit rächt sich eine Fünfjährige an einem unschuldigen Erwachsenen. Ein Zufall spielt dabei eine Rolle: der große Bruder zeigt ihr ein Bild aus einem Pornofilm. Dieses Detail hilft Klara bei der Lüge. Und alle glauben ihr. Aus diesem Wissensunterschied zwischen Figuren und Publikum bezieht der Film lange seine Spannung. Gründlich erzählt er die wachsende Ausgrenzung des Lehrers und Erziehers Lucas durch die Gemeinde einer dänischen Kleinstadt, die Suggestivfragen an das Kind, das allgemeine Urteil bereits vor der Untersuchung, die falschen Zeugenaussagen, die Selbstgerechtigkeit und Angepasstheit derer, die sich nur in der Menge sicher fühlen.
Denn bald erfordert es Mut, sich zu Lucas zu bekennen oder auch nur freundlich zu ihm zu sein. Die Handlung beginnt im November, als alles noch in Ordnung ist, Lucas umgeben von Freunden auf der Jagd und beim Saufen, Lucas als besonders beliebter Betreuer im Kindergarten, Lucas unterwegs mit seinem Hund Fenny - und schon ein paar Wochen später, Weihnachten, sitzt Lucas mit blutigem Gesicht allein in seiner dunklen Wohnung.

Der Einzige, der Widerstand leistet, ist Lucas’ halbwüchsiger Sohn Marcus, der, als er seinen Vater in Not weiß, spontan zu ihm reist. Nicht nur glaubt Marcus den Anschuldigungen nicht, er tritt für seinen Vater auch ein. Er allein, halb Kind noch, spricht den Satz aus, der von Nöten ist, zu den ehemaligen Freunden des Vaters, in der Höhle des Löwen: “Denkt doch mal darüber nach.” Dafür lässt er sich hinauswerfen, dafür lässt er sich schlagen.

Die moderne Aufgeklärtheit der Gemeinde wirkt verheerend. Der Film stellt der perfekt reflektierten Mittelschicht eine Bankrotterklärung aus. Gibt es eine Krise in ihrer Mitte, versagt die Gemeinschaft. Denn populäre Psychologieliteratur, Ratgeber und Expertendiskussionen tun ihre Wirklung. “Ein Kind lügt nie.” sagt die Kindergartenleiterin. Ja, selbst als Klara, erschrocken über die Lawine, die hereinbricht, ihre Lüge widerruft und die Wahrheit sagt: “Er hat mir nichts getan”, bleiben die Erwachsenen bei der Schuldzuweisung und erklären Klara, warum: “Das sagst du jetzt nur, weil du das schreckliche Erlebte verdrängst. Es ist aber geschehen!”
Es fehlt an Mut, Nachdenken und Energie, aus der Menge zu treten und Nein zu sagen. Nicht nur gerade Empörtheit leitet hier die elterlichen Aktivisten, die alten Freunde, den Supermarktverkäufer, die Kindergarten-Crew, sondern auch seltsam wachsende Lust daran, jemanden aus ihrer Mitte zu stigmatisieren.

Schließlich landet Lucas, da die Indizien aus dem Nichts erdrückend scheinen, in Untersuchungshaft. “Achtet auf besonderes Verhalten eurer Kinder”, rät Grete den Eltern, “Sind sie aggressiv, zurück gezogen, Bettnässer?” Prompt finden viele bei ihren Kindern diese Symptome: Lucas ist überführt. Ein Detail rettet ihn. Als die lieben Kleinen detailliert den Hauskeller von Lucas als Tatort beschreiben, stellt jemand fest: “Das Haus hat gar keinen Keller.” Der Satz erinnert in seiner Umkehrung an die berühmte Pointe aus dem Märchen von Landsmann Hans Christian Andersen “Des Kaisers neue Kleider”, wo ein Kind die Lüge der Erwachsenen entlarvt mit dem Ruf: “Aber der hat ja gar nichts an!”

Richtig los aber geht die Treibjagd auf Lucas erst, als er aus der Untersuchungshaft entlassen wird…

Thomas Vinterberg, berühmt geworden 1998 mit seinem Film “Das Fest”, dreht hier die Sache um. Während “Das Fest” von tatsächlichem sexuellen Kindesmissbrauch erzählt, den keiner glaubt, geht es in “Die Jagd” um einen nicht statt gefundenen Missbrauch, den alle glauben. Vinterberg thematisiert weniger den Missbrauch selbst als das, was im Zusammenhang damit mit einer sozialen Gemeinde passiert. Plötzlich steht alles auf dem Prüfstand: Freundschaft, Familienzusammenhalt, Geschwister- und Kinderliebe, Loyalität. Starke können feige werden und Schwache mutig.

Der Film räumt mit dem Kitsch von der unschuldigen Kindheit auf. Dass Lügen und Verzweiflung, unglückliche Liebe und Grausamkeit, Begehren und Eifersucht nicht erst mit der Pubertät einsetzen, weiß doch jedes Kind. In Betracht zu ziehen, dass Kinder auch bösartig sein können, heißt: sie ernst nehmen.

Thomas Vinterberg macht das. Annika Wedderkopp als kleine Klara und Lasse Fogelström als Marcus haben das Vertrauen des Regisseurs mit entscheidenden Parts, die sie konzentriert und bewegend spielen. Ebenfalls beeindruckend Hund Rosa als Hund Fenny, der bei Erwähnung von Lucas’ Exfrau Kirsten immer so schön wütend bellt, ein gelungener Gag.

Mads Mikkelsen, der Böse aus dem James-Bond-Film “Casino Royale”, zeigt als Opfer Lucas passende Wut und eine Empfindsamkeit, die beinahe weh tut. Kein Mann der Filmgeschichte kann so weinen wie er, Blut erst, dann Tränen.

A.S.H. | 29.03.13 17:43 | Permalink