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Eines langen Tages Reise in die Nacht

“Oh Boy”, Regie: Jan Ole Gerster

Von Angelika Nguyen

Als sich Niko Fischer am frühen Morgen aus dem Bett seiner Freundin stiehlt, sagt er auf ihre Frage, warum er schon gehe, dass er Termine habe. Niko hat keine Termine. Er will Kaffee trinken, bloß nicht hier.
Das mit dem Kaffeetrinken ist nun so eine Sache. Niko nämlich wünscht sich normalen Kaffee, den es im Latte-Macchiato-Areal der Berlin-Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg, wo der Film spielt, nicht mehr gibt. Das ist konkret und symbolisch zugleich. Denn Niko Fischer sehnt sich nicht nur nach normalem Kaffee, sondern auch nach normalen Menschen.
In dem ganzen Film trifft er nicht einen.

Da ist der aufdringliche Nachbar aus dem Hinterhaus, da ist Kumpel Matze, der verkrachte Schauspieler, der Niko per Auto ins White Trash in der Schönhauser, zu einem jugendlichen Drogendealer mit Oma im Wohnzimmer und zum Tacheles kutschiert. Da ist der Vater, der im S-Bahnbereich C golft und Niko die Alimente kündigt, da ist die Diskussion mit den Fahrkartenkontrolleuren über Vorschriften und kaputte Automaten, und da ist Julika, die ihn mal kurz gern haben will.

Alle Episoden passiert Niko mit gewisser Contenance und versucht in Kontakt zu kommen. Aber zwischen ihm und den Leuten ist irgendwie eine Wand. Das hat eine melancholische und eine sehr komische Seite, was der Film gekonnt ausbalanciert. Die Melancholie kommt mit Bildsequenzen, Jazzklängen und Nikos Lächeln daher, und die Komik wird jeweils schön langsam situativ entwickelt.
Allein die Szene im Coffeeshop, die im Trailer läuft, ist Grund genug, um in diesen Film zu gehen.

Eine ganze Reihe von Schauspielern machen mit ihren Episodenauftritten den Film zu einer besonderen Ensembleleistung. So wird Nikos Nachbar von Justus von Dohnányi bis zur Karikatur ausgereizt, und Martin Brambachs Fahrkartenkontrolleur ist so bedrohlich wie Andreas Schröders’ Amts-Psychologe eklig ist. Auch Friederike Kempter als durchgeknallte Julika, Frederick Lau als besoffener Anmacher oder Marc Hosemann als Matze legen amüsante Darstellungen hin. Ihr Zentrum aber ist Tom Schilling. Er zeigt Niko Fischer mit der für ihn typischen Introvertiertheit, der minimalen, doch präzisen Mimik, mit gepresster, dabei deutlicher Sprechart und der Körpersprache eines Menschen, der nicht weiter stören will. Genau diese Minimalität von Schilling macht das Anziehende der Figur aus. In einer sozialen Umgebung der Selbstdarsteller bildet Niko den Gegenpol.

Es geht nicht um Lebenskonzepte oder so etwas. Nein, Autor und Regisseur Jan Ole Gerster (Jahrgang 1978), schraubt den ganzen Anspruch seiner Hauptfigur auf den Wunsch nach einer Tasse normalen Kaffee herunter. Und den Wunsch, am Ende eines langen Tages die anderen ein Stück weit weg zu haben.
“Diese Freiheit kann einem auch zum Verhängnis werden.” sagt Gerster. Denn was Niko den ganzen Tag und die zwei Jahre seit Studienabbruch entrichtet, ist nichts weniger als der Preis der Freiheit. Was tun den ganzen Tag, wenn man alles tun kann und nichts? Was tun ohne Termine, Job, Familie, Pflichten?
Dabei ist Niko nicht besonders traurig. Er registriert nur immer wieder, dass er nirgends dazu gehört und dass keiner darauf achtet, was er sagt. Egal, ob er bei der Dame im Coffeeshop bestellt oder ob er Julika sein Lebensgefühl beschreibt. Schon gar nicht der eigene Vater macht da eine Ausnahme, der den zaghaften Satz des Sohnes: “Ich habe nachgedacht, über dich, über mich.” vollständig ignoriert.

Und wenn Niko Fischer, Anfang Dreißig, es noch zu nichts gebracht hat im Sinne von Vati und so frei ist, über den Alten und sich nachzudenken, ist er immerhin all das zugleich: Studienabbrecher, Zuhörer, Versager, Reisender, Sozialfall, Außenseiter, Einzelgänger, Schwarzkaffee-Trinker, Alte-Leute-Versteher. Eher klassisch als modern -der sensible Filmheld.

Dieses Spielfilmdebüt ist mehr als ein Talentbeweis. Es ist ein stringent erzähltes Großstadt-Roadmovie in betörendem Schwarz-Weiß und mit einer klaren Idee davon, was die Hauptfigur antreibt. Bestes Kino.

In der letzten Episode bekommt dann der Film leider eine Überdosis Michael Gwisdek. Kneipe, nachts, wo sonst. In einem etwas langen Monolog wird der eisgraue Kneipenbruder an Niko eine Geschichte los, die ihm etwas historisches Bewusstsein über die Nazizeit beibringen soll. Plötzlich wird die Leichtigkeit des Films schwer wie Blei.
Zu deutlich ist die Absicht. Und die Verehrung Gersters für das Kino-Urgestein Gwisdek zu groß, um da hinein zu schneiden.
“Bistn einsamer Wolf, wa?” lärmt Gwisdek zur Begrüßung.
Leise sagt Niko: “Ich möchte gern allein sein.”
Und wieder hört der andere nicht hin.

A.S.H. | 06.11.12 13:49 | Permalink