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Einsam in New York City

“Shame”, Regie: Steve McQueen
Von Angelika Nguyen

Ein Mann liegt nackt in seinem Bett morgens, wach und allein. Die blaue Bettwäsche, sein Blick ins Leere, seine halb unter der Decke liegende Hand wirken ungewohnt lange auf uns. Kein Schnitt, kein Ton. Nur Stille und dieser Blick aus blauer Bettwäsche. Das Aufstehen schließlich hat etwas Resigniertes.

Dann geht er, Brandon, nackt durch sein Klasse-Apartment, das hoch über der Stadt New York liegt, eine Frauenstimme spricht vom Anrufbeantworter, die Brandon sichtlich kalt lässt. Die Stimme füllt flehend den kahlen Raum, wechselt auch mal den Ton (“Nimm endlich ab, du Arsch.”). Das Ende einer Liebe vermutet man zuerst noch, aber dann stellt sich heraus, dass die Frau Brandons Schwester ist.

Immer offensichtlicher wird Brandons Einsamkeit, je öfter wir die Wiederholung seines Alltags erleben. Der tägliche Weg mit der U-Bahn, wo er mit immer derselben hübschen Frau Blicke wechselt, das Büro, die Abende in der Bar oder in der Wohnung, die Treffen mit Prostituierten oder schneller Sex auf der Straße mit einer Zufallsbekannten, Brandons über den Tag verteilte Masturbationen, seine spärlichen Sozialkontakte, die Pornos auf dem Computer.

Sex ist in „Shame“ nur ein Synonym. Der Film zeigt ihn wieder und wieder und zeigt uns, wie abgegriffen Sex werden kann, wenn er unsere tieferen Gefühle nicht berührt. Brandons Sexsucht, sagte Regisseur Steve McQueen, habe mit Sex so viel zu tun wie Alkoholismus mit Durst. Der Film erzählt Brandons allgegenwärtige Freiheit als eigentliche Unfreiheit. Immer und überall Sex haben zu können ist Brandons Gefängnis, weil ihm jede Art Liebe fehlt. Sein anderes Ich wird in der Figur seiner Schwester Sissy erzählt, die sich zwar überall emotional engagiert, aber genauso einsam ist wie er. In der dramatischen Zuspitzung der Geschichte der Schwester spiegelt sich Brandons eigene Verlorenheit, die viel leiser ist.

„Shame“ ausgerechnet nannte McQueen seinen von Sexdarstellung schwer beladenen Film und bezieht damit Position. Brandons soziale Zurückhaltung, ja Introvertiertheit ist nur die andere Seite seiner exzessiven Sex-Begegnungen. Bezeichnenderweise kann er Sex nur mit Unbekannten haben, bei seiner Kollegin Marianne ist er impotent. Brandons Sozialverhalten ist kaputt.

Der Film ist kein Psychodrama. Vielmehr bleiben die Figuren derart abstrakt und beispielhaft, dass der Film sich schon als modernes Sittendrama lesen lässt. Den Job im Griff, Geld auf dem Konto, aber brennend vor Einsamkeit in New York City, so sieht Brandons Leben aus. Jene Stadt, die schon so oft im Kino vorkam, wird hier eigenwillig porträtiert und in einer besonderen Szene des Films von Carey Mulligans Sissy abgrundtief traurig besungen. Aber auch New York ist nur ein Beispiel, ein Symbol für alle Großstädte. Einmal läuft Brandon in Joggingkleidung los, in einer langen Einstellung fährt die Kamera eine gewöhnliche Straße entlang, bis wir am berühmten Madison Square rauskommen, plötzlich.

“Shame” ist vor allem ein Film des irischen Schauspielers Michael Fassbender. Von eher zarter Konstitution, erscheint sein Brandon hinter der smarten Fassade extrem verletzbar. Eine Figur irgendwo zwischen Patrick Bateman aus “American Psycho” und Johnny Marco aus “Somewhere”. Fassbenders Konzentriertheit auf die Furcht seiner Figur zwingt zum Hinsehen, macht auch alltäglichste Verrichtungen spannend.
Unvergesslich sein Spiel in einer der letzten Sexszenen, in der er Brandons nackten Körper vergessen lässt und wir nur noch dessen Gesicht wahrnehmen, dessen verzweifeltes Gesicht. Da ist Lust schon lange keine Lust mehr.

Michael Fassbender zeigt wieder die Arbeit, die ein Schauspieler leistet und bekam dafür in Venedig die Auszeichnung als Bester Hauptdarsteller.

Lange treibt der Film die verborgene Verzweiflung seiner Figur vor sich her, bevor er aus den Fugen gerät. Die zeitliche Kontinuität wird aufgelöst, etwas Schreckliches ereignet sich endlich, und Brandon bricht an einer filmisch wieder untypischen Ecke New Yorks zusammen. Er kann nicht so weiter machen wie bisher.
Hoffnung? Auf eine Art, vielleicht.

A.S.H. | 01.03.12 13:29 | Permalink