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Sind Nazis ein Problem aus Dunkeldeutschland?

In dieser Woche gab es in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt eine sympathische kleine Aktion. Auf Grund des Versagens des Verfassungsschutzes bei der Bekämpfung der Terrortruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) erinnerte man an eine alte Forderung aus dem Herbst 1989, die nach Abschaffung der Geheimdienste:

„Einig in der Forderung 'Geheimdienst abschaffen' waren sich die 70 TeilnehmerInnen der heutigen Kungebung in Erfurt. 'Die Forderung von 1989 betraf nicht nur die Stasi, sondern die Auflösung aller Geheimdienste' sagte eine Sprecherin der Offenen Arbeit Erfurt und verlas ein mehr als 20 Jahre altes Flugblatt des Bürgerkommitees von 1989. Die Auflösung des Amts für Verfassungsschutz wurde dort explizit gefordert.“

„Viel Aufmerksamkeit erhielt auch eine Ausstellung und eine Klangcollage zum Thema der 182 Opfer rechter Gewalt seit 1989.“

Eine vollständige Auflistung der Opfer seit 1989 oder 1990 ist für Menschen aus Ostdeutschland von Interesse, denn sie verbinden mit diesen Jahren einen Systemwechsel. Trotz der Existenz einer diffusen rechten Szene in der DDR, kannten die meisten Ostdeutschen bis 1989 Neonazimorde nur aus den Nachrichten über Westdeutschland. Warum wird aber im Tagesspiegel, in der WELT, in der taz oder im Focus penetrant nur von „Opfern von rechter Gewalt ab 1990“ geschrieben? Wo sind sie geblieben, die Opfer deutscher Neonazis in der Bundesrepublik vor 1990? Zählen etwa die Toten des Anschlags auf das Münchner Oktoberfest oder der tote Verleger Shlomo Lewin nicht mehr? Will man das Problem mit den deutschen Neonazis bewältigen, indem man es „Dunkeldeutschland“ zuschreibt?

Derzeit gibt es in Ostdeutschland, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, mehr gewaltbereite Neonazis als im Westen. Das ist der gravierende Unterschied.
Die Ursachen hierfür sind verschieden, sicher sind sie auch in den herrschenden miesen ökonomischen Verhältnisse zu finden. Ähnlich wie schon in der Weimarer Republik bilden sie einen guten Nährboden für die braune Saat. (Hinsichtlich der Entwicklung der gerade galoppierenden Kapitalismuskrise kann sich dieser Ost-West-Unterschied möglicherweise schnell ändern.)

Die Expertin Prof. Dr. Birgit Rommelspacher fasste den Unterschied zum Westen so zusammen: „In Bezug auf unterschiedliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen scheint es so zu sein, dass im Osten im Vergleich zum Westen eine ökonomisch motivierte Fremdenfeindlichkeit überwiegt während der Antisemitismus im Westen ausgeprägter ist - allerdings gleichen sich auch diese Daten in letzter Zeit immer mehr an, d.h. der Osten holt in Bezug auf Antisemitismus auf. Auch nationalistische Einstellungen werden im Westen stärker vertreten.“ Im Osten herrschten Aktion, Parolen und Gewalt vor, während im Westen die Ideologien und politische Strategien ausgedacht würden.

Schon kurz vor der deutschen Einheit wussten West-Nazis wie Michael Kühnen, Gottfried Küssel, Arnulf Priem, Christian Worch usw. usw. sehr genau was zu tun war. Diese westdeutschen Reisekader leisteten spätestens ab 1989 die Aufbauarbeit unter den meist unorganisierten ostdeutschen NS-Sympathisanten. Ob GdNF, FAP, NPD, REPublikaner - die führenden Kader kamen damals alle aus den gewachsenen und schon immer geduldeten neofaschistischen Strukturen der alten Bundesrepublik. Dort konnte sich über Jahrzehnte, praktisch seit 1945, ein (teilweise auch terroristisches) Neonazi-Netzwerk entwickeln. Ein NS-Wiederbetätigungsverbot in Verbindung mit drakonischen Strafandrohungen, wie im Nachbarland Österreich, gab es in der alten BRD nie. Wie viele V-Leute schon damals unter den in den Osten pilgernden braunen Aufbauhelfern waren, ist nicht bekannt.

Die Gegenwehr gegen die aufkommende Naziszene im Osten war vielfältig, oft auch militant. Die ersten autonomen Antifa-Gruppen gründeten sich bereits in den 80er Jahren in der DDR. Einer ihrer Aktivisten, Silvio Meier, wurde 1992 von Nazis ermordet.
Die verschiedenen antifaschistischen Initiativen konnten mit Unterstützung aus den etablierten Parteien (bis auf wenige Ausnahmen) nicht rechnen. Im Gegenteil Polizei und andere Behörden behinderten, bekämpften, kriminalisierte immer und immer wieder antifaschistische und antirassistische Basisarbeit in Ostdeutschland.

Neofaschistische Übergriffe wie die Pogrome von Hoyerswerda, Rostock, im Westen Mölln und Solingen wurden als „Volkswille“ interpretiert und als Antwort darauf das Asylgesetz massiv eingeschränkt.
Der gleichen Logik, rassistische oder nationalsozialistische Gedanken und Wünsche ernst zu nehmen, sie zu akzeptieren und damit gesellschaftlich zu rehabilitieren, folgte auch das in dieser Zeit angewandte pädagogische Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“. Dieses Konzept der Sozialarbeit wurde in den 70er Jahren entwickelt, um einen Umgang mit der offenen Drogenszene und der damals vermehrt eingesetzten Repression gegen diese zu finden. Man wollte damit einen Zugang zu einem gesellschaftlich ausgegrenzten Klientel erhalten.

Bei rechtsradikalen Einstellungen handelte es sich aber nicht um „Verfehlungen“, sondern um die Umsetzung eines klaren rassistischen Menschenbildes, um rechte Ideologie, die sich bereits auf dem Marsch in die gesellschaftliche Mitte befand.

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Wenige Monate nachdem der 23-jährige Thorsten Lamprecht 1992 bei einem Überfall von etwa 60 Skinheads auf eine Punk-Fete in dem Magdeburger Lokal "Elbterrassen" mit einem Baseballschläger ermordet wurde, besuchten Anfang 1993 die Ministerinnen Angela Merkel und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen Magdeburger Jugendclub. Dieser Jugendklub wurde damals von den lokalen antifaschistischen Gruppen als Nazi-Treffpunkt eingestuft. Unter den Jugendlichen vermuteten sie auch Beteiligte des Skinhead-Überfalls.

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Akzeptierende Jugendarbeit – der Versuch, Faschismus zu therapieren

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Gedenkminute im Bundestag für die Opfer der Terrorgruppe NSU, Foto: YouTube

Hat sich heute, elf Jahre nach dem bürgerlichen „Aufstand der Anständigen“, an der bescheidenen Situation antifaschistischer Initiativen etwas geändert?

Sieht man sich an, wie „zivilgesellschaftliche“ Projekte ideologisch mit „Extremismusklauseln“ unter Druck gesetzt, Gelder gestrichen, ganze Demonstrationen beispielsweise gegen den größten Naziaufmarsch Europas in Dresden mittels „Funkzellenauswertung“ bespitzelt, reihenweise Polizeirazzien gegen Antifaschisten durchgeführt werden u.s.w., so sieht es nicht nach einer wesentlichen Verbesserung der Bedingungen für antifaschistische Arbeit aus.

Gegen Menschen wie den Jugendpfarrer Lothar König, der sich zusammen mit seinen Jugendlichen aus der Jungen Gemeinde Jena seit Jahren gegen Nazis engagiert, wurde in diesem Zusammenhang wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Gegen drei Neonazi-Bombenbauer, und vermutlich spätere mehrfache Mörder aus der gleichen Stadt, hielt man so etwas jedoch für unnötig – eine verkehrte Welt.

Ist der Staat auf dem rechten Auge blind? Nein, ist er nicht. Er starrt mit beiden Augen nur immerfort nach links.
Wie bekannt, wurde der bundesdeutsche Sicherheitsapperat nach dem Krieg von NS-Seilschaften aufgebaut, welche von Natur aus für die antikommunistische Kontinuität in der Ausrichtung der Behörden sorgten. Aber sollte man nicht denken, dass sich das mittlerweile ausgewachsen hätte? (Hallo! Hier ist niemand von Moskau gesteuert!) Die Extremismusthese ist ein ideologisches Werkzeug aus dem Kalten Krieg und falsch. Ähnlich der stalinistischen Sozialfaschismusthese Anfang der 30er Jahre, verhindert sie heute ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen die Nazis.

Härtere Gesetze, stärkere Geheimdienste, neue Datenbanken, Vorratsdatenspeicherung, Partei-Verbote? Alles Quark! Im Zweifelsfall werden diese Dinge auch (oder nur) gegen uns eingesetzt.
Was gegen Neonazis hilft? Widerstand, Persönliches Engagement, gesellschaftliche Initiativen und gesellschaftliche Veränderung, wirkliche Demokratie.

A.S.H. | 25.11.11 19:50 | Permalink