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Tanger Trance

von Jürgen Schneider

Tanger: das Tor zu Afrika. Der Magie der Stadt erlagen einst nicht nur die französischen Maler Eugène Delacroix und Henri Matisse, sondern auch US-amerikanische Schriftsteller, wie etwa Paul Bowles, William S. Burroughs, Ira Cohen, Brion Gysin oder Truman Capote. Auch den Schweizer Lehrer, Autor, Übersetzer und Herausgeber Florian Vetsch zieht es seit 1993 immer wieder in die marokkanische Stadt. Vor ein paar Jahren erschien im Verlag Ricco Bilger die von Vetsch edierte Anthologie »Tanger Telegramm«. Der Titel ist ein Understatement, bietet das opulente Werk doch einen umfassenden Über- und Einblick in die Welt Tangers und die von ihr ausgehende Faszination. Jetzt hat Vetsch nachgelegt, im Benteli Verlag erschien das Buch »Tanger Trance«. Es enthält in deutscher, englischer, französischer und arabischer Sprache Beobachtungen, Reflektionen, Kurzporträts (unter der Überschrift ›Sufi‹ etwa von Abdenbi Sarroukh, einem Professor, der die Welt umwälzt) und schließlich Gedichte, die von Vetschs intensiver Auseinandersetzung mit Tanger, seinen Bewohnern und illustren Gästen zeugen.

Von einem Banker gefragt, was denn »das Geile an Tanger« sei, führt ihn Vetsch außerhalb der Kasbah-Mauern und notiert: »Wir schauten über die Strait bis nach Spanien, und ich, ich war sprachlos.«

Erzählt wird etwa die Geschichte eines Ali Baba, der in den 70er Jahren amerikanische Hippies im Rif zum Kiffen herumgeführt hatte. Die Amis versprachen ihm zum Dank etwas aus den USA zu schicken. Versprochen. Gehalten. Eines Tages bekam Ali Baba einen Brief mit ein paar Zeilen und einem farbigen Papier. Er solle, so empfahlen es seine Hippie-Freunde, das Papier essen, es sei die neue Wunderdroge. Ali Baba verschlang das Papier gleich in toto und wachte erst in einer Zelle wieder auf. Beim Verhör sagte er den Polizisten die Wahrheit, er habe farbiges Papier gegessen und sei durchgedreht. Nach einigem Hin und Her beschlossen die Ordnungshüter, es sei nicht strafbar, Papier zu essen, und setzten Ali Baba wieder auf freien Fuß.

Vetsch besuchte Paul Bowles just an jenem Tag, als den die Nachricht vom Tod seines Freundes William S. Burroughs erreicht hatte: »Ich kam nach fünf zu ihm. Cherie Nutting, seine Leibfotografin, war auch da. Ich wusste, wie sehr sich Bowles und Burroughs nahegestanden hatten. Bowles pflegte alle Bücher von Burroughs mit grösstem Interesse direkt nach dem Erscheinen zu lesen. Allein den ›Naked Lunch‹ hatte er sechsmal gelesen. Bei ihm hatte ich z. B. ›My Education‹, Burroughs’ spätes Traumtagebuch, entdeckt, durch das auch Bowles’ Figur geistert. Burroughs war – wie so manche nach ihm – nicht zuletzt wegen Bowles’ Büchern nach Tanger gekommen. Ihr Briefwechsel war rege. Zu gerne hätte ich noch dieses Doppelinterview gemacht: ›Bowles on Burroughs / Burroughs on Bowles‹; es wäre interessant gewesen, den beiden unabhängig voneinander zum Teil dieselben, zum Teil abweichende Fragen zu stellen und dann die Gespräche mäandern zu lassen... Cherie versuchte die gewohnte freundlich-offene bis heiter-ausgelassene Gesprächsstimmung in Gang zu bringen, doch Paul Bowles sprach an dem Abend kaum noch ein Wort; der Greis schien sich mit den Schatten auszutauschen.«

Den zweiten Teil des Buches »Tanger Trance« bilden Farbfotos der Schweizer Fotografin Amsel. Die Fotos verweisen auf die Unentschiedenheit der Fotografin, ob sie sich konzeptuell auf Farben und Formen konzentrieren oder ganz einem touristischen Blick folgen und Schnappschüsse vom Strand und von der Stadt bieten soll. Es mangelt Amsels Fotos an der Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, wie sie etwa den schwarz-weißen Marokko-Bildern des libanesischen Fotografen Samer Mohdad eigen sind.

»Tanger Trance«. Mit Fotografien von Amsel und Texten von Florian Vetsch. Benteli Verlags AG, 2010, 240 Seiten, 98 farbige Abbildungen, 54 Euro

A.S.H. | 13.12.10 15:40 | Permalink