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Ausgepackt: Neue Bücher aus und über Irland (Folge 1)

von Jürgen Schneider

In der Nacht zum 31. Mai 1941 warfen Bomber der Nazi-Luftwaffe vier Bomben auf das Arbeiterviertel North Strand von Dublin, der Hauptstadt von Irland, das im Zweiten Weltkrieg einen schwierigen Neutralitätskurs verfolgte. 28 Menschen wurden getötet, 90 verletzt und 300 Häuser zerstört oder beschädigt. Bereits Anfang Januar 1941 hatten Bomben in »Little Jerusalem«, dem jüdischen Viertel Dublins, erheblichen Schaden angerichtet. Am 19. Juni 1941 erklärte die irische Regierung, die Nazi-Regierung habe wegen der Bombardierung von North Strand ihr Bedauern ausgesprochen und Entschädigungszahlungen versprochen. Die Kompensationsleistungen wurden allerdings erst 1958 vom NS-Nachfolgestaat BRD gezahlt.

Kevin C. Kearns hat in seinem Buch The Bombing of Dublin’s North Strand – The Untold Story (Dublin: Gill & Macmillan) eine »oral history« vorgelegt. Bislang hatte die Geschichtsschreibung die Bomben auf das Arbeiterviertel mit keiner größeren Würdigung bedacht. Kearns hat Betroffene und Augenzeugen aufgespürt und versucht, die Situation vor, während und nach dem Angriff anschaulich werden zu lassen. Bei der Frage »Wer hat die Bomben abgeworfen und warum?« fährt Kearns einen Schlingerkurs und möchte suggerieren, eine definitive Antwort sei nicht möglich.

Dass es deutsche und nicht englische Bomben waren, wusste man in Irland sofort. Darauf verwies bereits 1975 John P Duggan in seinem Buch »Neutral Ireland and the Third Reich«. Demnach hatte der irische Gesandte in Berlin, William Warnock, bereits kurz nach der Bombardierung gegenüber der Nazi-Regierung auf ein zylindrisches Trümmerteil mit der Aufschrift »hier nicht anheben« verwiesen. Kearns zitiert die Rechercheergebnisse von Leo Sheridan, die 1997 in der »Irish Times« veröffentlicht wurden. Demnach sei die Bombardierung nicht zufällig, sondern unter dem Namen »Operation Römischer Helm« erfolgt. Die Nazi-Luftwaffe habe die Gebäude der Dubliner Feuerwehr zerstören wollen, weil deren Löscheinheiten im britisch regierten Nordirland zur Hilfe eilten, nachdem Belfast bombardiert worden war. Sheridan, so Kearns, sei nicht glaubwürdig, weil er keine Dokumente vorgelegt habe. Warum hat Kearns, der den deutschen Faschismus reduziert auf den »madman Hitler«, nicht wie Sheridan in Münchner Archiven recherchiert?

Für seine Zeit gut recherchiert hat der einst in Spanien lebende Philip O’Sullivan Beare (?1590-1660), der 1625/26 das nun in Uppsala aufbewahrte Manuskript »Zoilomastix« in lateinischer Sprache verfasste. Den ersten Teil dieses Werkes hat Denis C. O’Sullivan erstmals ins Englische übertragen und unter dem Titel The Natural History of Ireland veröffentlicht sowie mit einem exzellenten Vorwort versehen (Cork: Cork University Press). O’Sullivan Beare wollte mit seinen ausführlichen Schilderungen der Gegebenheiten Irlands, seiner Regionen, Orte, Flüsse, Pflanzen, Fische, Vögel und sonstigen Tiere sowie einiger überlieferter Wunder einen Kontrapunkt setzen gegen das Werk »Topographia Hiberniae« von Giraldus Cambrensis (1146-1223), sich jedoch nicht »jedes einzelne seiner verrückten Statements« vornehmen, sondern nur die, »in denen er die Herrlichkeit Irlands in den Schmutz zieht«. Giraldus’ »Topographia« war noch im 17. Jahrhundert ein viel gelesenes Werk. Darin werden die Iren als Barbaren dargestellt, und mit seiner Rechtfertigung der zwischen 1170 und 1270 erfolgten anglo-normannischen Invasion in Irland begründete Giraldus die koloniale historiographische Tradition einer negativen Darstellung der Iren.
Die Familie O’Sullivan, die ursprünglich aus dem Süden von Tipperary stammte und sich nach der Vertreibung durch die Normannen im 12. Jahrhundert in West Munster niederließ, hatte Irland nach der für das Ende des Neunjährigen Krieges entscheidenden Schlacht von Kinsale von 1601 verlassen. Mit ihrem Sieg erlangten die Engländer zum ersten Mal seit der anglo-normannischen Invasion die vollständige Kontrolle über Irland. O’Sullivan Beare hasste die Engländer, weil sie Tod, Leid und Hunger brächten und Irland ethnisch säuberten. England sei schon deshalb »hinter Irland« zu setzen, weil es »von giftigen Tieren« verseucht sei und es der Nachbarinsel »an Wundern mangele«. Der hl. Patrick soll die Schlangen und anderes Getier aus Irland verjagt haben, und an Wundern ist die irische Überlieferung nicht arm.

Aus dem 12. Jahrhundert stammt die in Alt- und Mittelirisch abgefasste Textsammlung »Acallam na Senórach«, die Maurice Harmon neu ins Englische übertragen und kommentiert hat: The Dialogue of the Ancients of Ireland (Dublin: Carysfort Press). Der umfangreichste Text des »Fenian Cyle« ist einige Jahre nach dem Tod des Fianna-Helden Fionn mac Cumhaill angesiedelt. In der Rahmenhandlung geht es um Reisen durch die irischen Provinzen des hl. Patrick und der Heiden Caílte mac Rónáin, Fionns Neffe, und Oisín, Fionns Sohn. Die Fianna sind in der irischen Mythologie irische Krieger und Souveränitätshüter. In stilistischer Vielfalt, mal prosaisch, mal poetisch, und mit überbordender Fantasie erzählt, unterscheidet sich das Werk von anderer Sagenliteratur dadurch, dass die Ereignisse nicht einer längst vergangenen Zeit angehören, sondern eine ewige Präsenz des Heroischen beschworen wird, wobei die imaginierte Welt eine grob skizzierte reale Welt überlagert. Der Text bietet zugleich eine moralische Richtschnur für das wirkliche Leben, zeigt auf, welches Verhalten richtig und welches verwerflich ist. Für den »Dialog der Alten« gilt, was Caílte in seinem Lob des Goldes singt: »Die Schätze überleben, die Menschen nicht.«

Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Irish Georgian Society erschien das Coffee Table-Buch Great Irish Houses mit Fotografien von Trevor Hart (Dun Laoghaire: Image Publications). Vorgestellt werden prächtige Herrenhäuser, die allerdings nicht alle georgianisch geprägt sind. Mit dem üppigen Bildband werden die einleitend zitierten Ausführungen von Robert Molesworth negiert, der Anfang der 1720er Jahre an den Architekten Alessandro Galilei geschrieben hatte, in Irland »haben wir keinen Geschmack, besonders wenn es um die Schönen Künste geht«. Das Interieur der meisten Häuser wird man nur anhand der Abbildungen würdigen können, während man etwa das Bantry House in der Grafschaft Cork seit 1946 besichtigen und im ebenso behutsam restaurierten wie postmodern eingerichteten Bellinter House in der Grafschaft Meath übernachten und sich mit biologischen, aus Algen gewonnenen Voya-Schönheitsprodukten aus der Grafschaft Sligo verwöhnen lassen kann.
Nicht minder prächtig ist der kiloschwere Kulturatlas eines der touristischen Highlights Irlands, der Halbinsel Iveragh mit dem Ring of Kerry – The Iveragh Peninsula: A Cultural Atlas of the Ring of Kerry, herausgegeben von John Crowley und John Sheehan (Cork: Cork University Press). In fünfzig reichlich und aufschlussreich illustrierten Beiträgen werden alle Aspekte der Kulturlandschaft der größten Halbinsel Irlands beschrieben, von der Landschaft als solche über die Frühzeit und Historie, die kulturellen Traditionen – etwa die der Lebensmittelproduktion und des Essens, der Musik, der irischen Sprache und Folklore -, bis hin zu den Kapiteln ›Contemporary Iveragh‹ (mit dem Hauptaugenmerk auf die ökonomische, landwirtschaftliche und demographische Entwicklung) und ›Representing Iveragh‹ (u. a. mit Texten über die Maler Jack B. Yeats und Paul Henry, die sich beide von der landschaftlichen Schönheit der Insel inspirieren ließen).

Das Städtchen Wexford liegt am äußersten Südostzipfel von Irland und ist die Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft. Die Wikinger gründeten einst diesen Ort an der Mündung des Flusses Slaney. Der Jahrhunderte lang blühende Hafen, einst strategisch wichtig für die anglo-normannischen Eroberer, verlor seine Bedeutung erst mit seiner Versandung im 19. Jahrhundert. Brian Colfer zeichnet in seinem Buch Wexford: A Town and its Landscape (Cork: Cork University Press) die Entwicklung der Stadt nach, bis hin zu Wexford als der einzigen irischen Stadt, die jährlich ein Opernfestival ausrichtet. Im vergangenen Jahr wurde ein neues Opernhaus eröffnet. Nur kurz würdigt Colfer die berühmten Söhne der Stadt, wie etwa den längst in Dublin lebenden Schriftsteller John Banville, den er mit den Worten zitiert: »All die Landschaften meiner Bücher sind in gewisser Weise von Wexford erfüllt, selbst wenn es sich um das moderne Griechenland oder das mittelalterliche Preußen handelt. Als ich ein Bild von Kopernikus’ Torun oder von Keplers Weilderstadt zeichnen musste, war es Wexford, das ich beschwor.«
Verlassene irische Häuser und Ruinen, an denen es in Irland keinerlei Mangel hat, beschwört Astrid Behrendt in ihrem Schwarz-Weiß-Bildband Please keep gate closed: Auf der Suche nach dem irischen Herzschlag (Leverkusen: Drachenmond Verlag): »Verlassene Häuser üben auf mich einen stärkeren Reiz aus als gut gefüllte Pralienschachteln oder Pepperoni-Chips.« Sympathisch ist dabei, dass die von ihr vorgestellten Orte, Anwesen und Gebäude, abgesehen von der »Touri-Falle« Cliffs of Moher, nicht zu den Touristenattraktionen zählen, sie »eine Duftmarke nach Eau de cowshit« nicht scheut und gern auch mal über eine Weide voller Schafsköttel läuft, um einem »launischen Zauber« zu folgen. Als Motto hat sie ihrem Reisetagebuch einen Satz von Martin Buber vorangestellt: »Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.« Sie verliert sich in den Regionen der Irischsprecher, der Gaeltacht, ist entzückt von dem von Efeu überwucherten Castle Caldwell am Lower Lough Erne, widmet ein Kapitel der 1530 geborenen irischen Piratenkönigin Gráinne Ní Mháille, die vom Westen Irlands aus in See stach und Schiffe plünderte und gar zur englischen Königin Elisabeth I. segelte, um ihr Zugeständnisse abzuringen. Besonders angetan haben es der Autorin und Fotografin die Halbinsel Beara sowie Achill Island. Achill übte schon auf Heinrich Böll einen solchen Reiz aus, dass er sich dort ein Häuschen kaufte und sein »Irisches Tagebuch« verfasste, das bis heute die Hoffnungen der Irlandreisenden weckt, obwohl es recht eigentlich eine Kritik am westdeutschen Wiederaufbau- und Wirtschaftswunder ist.

Behrendts S/W-Fotos sollen uns »direkt nach Irland entführen und Appetit machen«, uns »die grüne Insel selbst zu erobern«. Hat Irland nicht schon genug Eroberungen erlebt? Sie verspricht: »Das Gras ist wirklich so grün, dass Sie sofort bei der Karma-Vergabestelle einen Wunschzettel für einen Leben als Kerry-Kuh einreichen werden.« Nein, wenn schon Kuh, dann North Antrim-Kuh. Oder vielleicht doch ein Leben als Banker in der Finanzruine Dublin?
In Metamorphosis – Lessons from the Formative Years of the Celtic Tiger, 1979-1993 (Cork: Oak Tree Press) singt Con Power, einst Director of Economic Affairs der Confederation of Irish Industry, ein Loblied auf seine Konföderation, vor allem unter seiner Leitung. Er preist, wie sollte es anders sein, die Anlockung transnationaler Konzerne, also die Brückenkopffunktion Irlands bei dem Versuch, wachsende Teile des europäischen High-Tech-Marktes für Investitionen aus den USA zu öffnen, und verweist stolz auf 580 US-amerikanische Unternehmen im Land (Stand: 2007). Und er entwirft ein Bild von »Irland als ein globales Büro«, nicht nur in Sachen Finanzen. Die von ihm beschworene Wirtschaft des sog. »Keltischen Tigers« lahmt nicht nur mehr, sondern ist längst Opfer der globalen Krise geworden. Hatte nicht der von ihm noch nach dem Kollaps gepriesene Finanzsektor für die Hypothekenkrise gesorgt? Dennoch wird der »Keltische Tiger« als Modell für die Zukunft angepriesen. Die »Sozialpartnerschaft«, Lohndämpfung und Flexibilität der Arbeitskräfte werden es schon richten. Damit jeder gleich weiß, wo es lang gehen soll, gibt sich Powers Landsmann Charlie McGreevy, seines Zeichens Mitglied der Europäischen Kommission, in seinem Vorwort unbeirrt neoliberal und propagiert die niedrige Besteuerung der in Irland ansässigen Unternehmen, also von Niederlassungen transnationaler Konzerne zumeist, sowie offene und flexible Märkte als Krisenbewältigungsstrategie. Ganz so, als könne der bloße Glaube, mit dem es in seiner römisch-katholischen Ausprägung in Irland auch längst nicht mehr zum Besten bestellt ist, Berge versetzen.
Besser geht es hingegen der irischen Literatur. Die bleibt zwar häufig hinter dem von einem Beckett oder Joyce Erreichten zurück, ist aber zur trademark geworden und floriert. Und will verstanden sein, wofür primär nicht die Leserinnen und Leser zuständig sind, sondern die universitären Textausleger und Literaturhistoriker.
Die Manchester University Press wartet mit dem Sammelband Irish Literature since 1990 – Diverse Voices auf, herausgegeben von Scott Brewster und Michael Parker. In den fünf Kapiteln mit 17 Beiträgen geht es 1. um die Kontexte, 2. um das Drama, 3. um die Poesie, 4. um Fiction und Autobiographie und schließlich in einem Nachwort darum, dass es in der nordirischen Literatur und Kunst einen Unwillen gegeben habe bzw. eine Limitierung durch das Medium, sich der Materialität der gewaltsamen Ereignisse zu stellen. War es nicht vielmehr so, dass die sog. Troubles übermächtig waren, die Schriftsteller und bildenden Künstler, wollten sie ernst genommen werden, sich ihnen nicht entziehen konnten, sondern sie in das Zentrum ihrer künstlerischen Bemühungen stellten? Um den Preis, durch den Friedensprozess ihre Thematik, eben die gewaltsamen Auseinandersetzungen, zu verlieren?

Liam Harte schreibt in seinem Text ››Tomorrow we will change our names, invent ourselves again‹: Irish Fiction and autobiography since 1990‹ von der Unmöglichkeit, die thematische und stilistische Vielfalt der irischen Literatur auf wenigen Seiten zu erfassen. Je näher man Kontinuitäten und Korrespondenzen untersuche, desto deutlicher trete diese kaleidoskopische Vielfalt hervor. Kurzgeschichtensammlungen, wie Anne Enrights »The Portable Virgin« (dt.: »Die tragbare Jungfrau«), Mike McCormacks »Getting it in the Head« und Keith Ridgways »Standard Time« (dt.: »Normalzeit«) zeigten, dass die Kurzgeschichte mit der Kombination von lyrischer Verdichtung und romanhafter Ausschweifung, verbunden mit der Bevorzugung des Partikularen statt des Kumulativen, ideal sei, um die prismatischen Fragmente der radikal separierenden Konsumgesellschaft einzufangen. Der große irische Roman, an dem der ein oder andere Kritiker oder Literaturwissenschaftler festhalte, sei ein Anachronismus. Wie zur Ergänzung fügt Heidi Hansson (›Anne Enright and postnationalism in the contemporary Irish novel‹) das postnationalistische Moment hinzu und schreibt über Anne Enrights Roman »What are you like?«: »Die Abwesenheit linearer Kausalität mag der einzig angemessene Weg sein, eine postnationalistische Erfahrung zu vermitteln. Dies heißt jedoch auch, dass die postnationalistische Gesellschaft hauptsächlich negativ definiert wird: fragmentarisch, kein Ganzes, verwirrend, nicht beständig, transitorisch, nicht von Dauer. Anne Enrights Roman wird letztendlich ebenso sehr zu einer kritischen Darstellung moderner, urbaner Existenz wie zu einem Angriff auf die Zwangsjacke einer nationalistischen Vergangenheit.«

Zur Vertiefung in das Thema irische Kurzgeschichte bietet sich der Sammelband A History of the Irish Short Story von Heather Ingman an (Cambridge: Cambridge University Press). Das Hauptaugenmerk dieser Studie gilt nicht dem irischen Geschichtenerzählen per se, sondern der Entwicklung der modernen irischen Kurzgeschichte als Kunstform, von den Kurzerzählungen des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag. Die Studie beginnt im 19. Jahrhundert mit William Carleton und Emily Lawless, führt zu den Visionen des Fin de Siècle (dargestellt an W. B. Yeats und George Egerton) und weiter zur modernen Kurzgeschichte eines James Joyce oder eines George Moore. Bei den »Übergangsjahren« (1920-1939) gilt die Aufmerksamkeit Frank O’Connor und Norah Hoult, für die »Jahre der Isolation« (1940-1959) werden Mary Lavin und Seán O’Faolaín untersucht, für die Jahre 1960-1979 William Trevor und Edna O’Brien. Die Untersuchung der gegenwärtigen Kurzgeschichte wird exemplifiziert an John McGahern und Éilís Ní Dhuibhne, jüngere Schriftstellerinnen oder Schriftsteller finden nur begrenzt Erwähnung. Nützlich ist das biographische Glossar.

Bei der Fülle der Sekundärliteratur über James Joyce ist es ein Wunder, dass bislang noch keine umfassende Untersuchung vorlag, wie dessen Werk, vornehmlich der »Ulysses«, durch deutschsprachige Schriftsteller produktiv gelesen wurde. Maren Jäger hat nun die Untersuchung Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945 vorgelegt (Tübingen: Max Niemeyer Verlag), in der sie anhand von vier Fallstudien Grundzüge der Wirkung des Ulysses auf die deutsche Nachkriegsliteratur skizziert: Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson und Wolfgang Hildesheimer. Ihre Liste der Autoren, »bei denen eine genauere Untersuchung im Hinblick auf die Adaption der von Joyce entwickelten literarischen Techniken (auch für die Lyrik) ohne Zweifel ergebnisreich wäre«, ist so lang, das Zweifel angebracht sind, ob alle der Genannten auf diese Liste gehören. Verweise in Aufsätzen oder Reden darauf, von Joyce und dessen Techniken zu wissen, wie sie Jäger von Grass beibringt, machen noch keine wirkliche Rezeption aus.

Verkürzt ist die Lesart Jägers, »›politisch‹ sei der ›Ulysses‹ durch sein genuin künstlerisches, formal-experimentelles und sprachschöpferisches Provokationspotential«. In den ersten drei Episoden seines Romans lässt Joyce seinen Protagonisten Stephen Dedalus gegen die englische Herrschaft in Irland auftreten. Mit dem Juden Bloom führt uns Joyce einen subtilen und flexiblen Kritiker von Staat und Kirche vor. Was nicht durch dessen Gedanken Ausdruck finden kann, bewältigt Joyce, indem er den Kampf gegen die britische kulturelle Hegemonie in Irland zu einem sprachlichen gestaltet, die englische Sprache mit seiner episodenweise variierten Sprachstilisierung und der wechselnden Brechung der Erzählperspektive aufsprengt – sein »Ulysses« – wie es dort an einer Stelle heißt – »als irischer Bulle in einem englischen Porzellanladen«. Es ist kein experimentelles Potential vonnöten, um den betrunkenen Stephen »Non serviam!« ausrufen und bezüglich des Kampfes um die Unabhängigkeit auf den eigenen Kopf verweisen zu lassen: »Doch hier drinnen steht, daß ich den Priester und den König töten muss.«

A.S.H. | 02.12.09 12:42 | Permalink