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Polen: Gewerkschaftssitzungen zwischen den Regalen

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Notfalls mit Gewalt zwischen den Regalen: Wo die Arbeitgeber Betriebsratsgründungen verhindern wollen
Quelle: Trybuna Robotnicza

von Kamil Majchrzak

Durch die globale Krise ist Osteuropa in mehrfacher Hinsicht doppelt belastet. Verstärkte Exportprobleme, Wechselkursabwertungen, Kreditklemme und das Versickern von Kapitalzuflüssen werden vorwiegend durch Entlassungen bzw. Lohneinfrierung zu beheben versucht. Während große Gewerkschaften in Polen versagt haben Widerstand zu leisten geben kleinere kämpferische Gewerkschaften insbesondere prekär Beschäftigten neue Hoffnung.

In den vergangenen Jahren galt Polen als Musterschüler neoliberaler Ökonomie. Die Schocktherapie von Leszek Balcerowicz Anfang der 90er Jahre zerstörte die Reste zivilgesellschaftlichen und sozialen Engagements, das bereits zuvor in den 80er Jahren während des Kriegszustandes und der Illegalisierung der Gewerkschaft NSZZ Solidarność wirksam gebrochen wurde. Die universelle Eschatologie der (Markt) Freiheit wies schon während der Verhandlungen des Runden Tisches, die seit 1988 inoffiziell geführt wurden, einen Schönheitsfehler auf, der auf den grünen Dollar-Noten nicht mitgedruckt wurde. Denn mit dem „Ausbruch“ der Freiheit geriet auch die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften und der Arbeiterkämpfe in Frage.

Paradoxerweise ist Polen, das durch die Streiks vom Sommer 1980 den Grundstein für spätere System-Umwälzungen in Mittel-Ost-Europa legte heute das Land mit dem höchsten Mangel an politischer Repräsentation der Arbeiterklasse. Gewerkschaften können in Polen nicht einmal eine bruchhafte oder deformierte politische Vertretung ihrer Interessen im Parlament vorweisen. Was noch schlimmer wiegt ist die selbstverschuldete Unmündigkeit und Korrumpiertheit der postkommunistischen OPZZ und der konservativen Solidarność.

Arbeitskämpfe gelten in polnischen Unternehmen mittlerweile als Ausnahme. Schon während der beachtlichen Streikwelle zwischen 2000 und 2003 gingen im Schnitt für die davon betroffenen Unternehmen lediglich zwei Arbeitstage pro Jahr verloren. Wen wundert da der Niedergang der beiden genannten großen Gewerkschaftszentralen? 1990/91 waren in Polen zwei Fünftel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert - 2007 noch elf Prozent. Allein von Dezember 2006 bis Juni 2007 verlor die einst große Solidarność 26.000 Mitglieder. Und die postkommunistische OPZZ verkümmert unter dem Joch des finanziellen Ruins, nachdem die Gewerkschafts-Kasse durch eine private Stiftung übernommen wurde, die der ehemalige OPZZ-Vorsitzende kontrolliert. Gemäß einer Umfrage des Forschungsinstitutes CBOS vom Juli 2001 sind 74 % der Befragten Polen und Polinnen der Meinung, dass die Gewerkschaften nicht effektiv ihre ArbeitnehmerInnen-Interessen verteidigen.

Dies ist umso dramatischer als nach Angaben des staatlichen Statistikamtes GUS ca. 12%-13% der Polinnen und Polen unter der Grenze eines Existenzminimums leben. Das Institut für Arbeit und Soziales IPISS geht in einer Studie, davon aus, dass nahezu weitere 60 % der Bevölkerung (das sind 23 Millionen Personen) unter einem Sozialminimum leben und somit nicht einmal die elementarsten sozialen Bedürfnisse befriedigen können. Der Sozialminimum-Index ist ironischerweise auch eines der Postulate der Solidarność-Gewerkschaft gewesen, die in die sog. Danziger Verträge vom August 1981 als Messeinheit für Reformen aufgenommen wurde.

Vor dem Hintergrund dieses Versagens scheinen den Arbeitern nur kleinere engagierte Gewerkschaften eine Alternative zu bieten ihre berechtigten Forderungen durchzusetzen. Während die großen Gewerkschaftszentralen die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, wovon insbesondere Frauen betroffen sind z.B. in Supermärkten oder der Care Ökonomie, entdeckten engagierte Gewerkschaften gerade diese Personen als Ansprechpartner. Besonders hervorgetan hat sich dabei die Gewerkschaft Sierpień 80 (August 80). Als Kassiererinnen des britischen Hypermarktes TESCO im schlesischen Tychy versuchten einen Betriebsrat zu gründen wurden prompt neue Kassiererinnen von einer Zeitarbeitsfirma angeheuert. Sierpień 80 blockierte daraufhin die Kassen mit Einkaufswagen und hielt die erste Betriebsratssitzung einfach zwischen den Regalen des Supermarktes ab. Mittlerweile arbeiten die traditionell aus den schlesischen Kohlegruben stammenden Mitglieder mit ihren Kolleginnen aus anderen Branchen. So unterstützten die Minenarbeiter den Streik der Krankenschwestern 2007 oder gewährleisten Schutz bei Schwulen-und Feminismus-Demos vor Nazi-Übergriffen.

Daneben sollte auch das anarchistische Syndikat Inicjatywa Pracownicza (IP) genannt werden, deren letzter Postarbeiterstreik bei Arbeitegebern als wiederkehrender Albtraum für weiße Nächte sorgt. Die IP hat auch Einfluss unter den polnischen Wanderarbeitnehmern und ist in der Lage polnische Arbeiter in Irland zu unterstützten. Auch Sierpień 80 informiert polnische MigrantInnen über ihre Rechte innerhalb der EU auf und arbeitet dabei mit der deutschen IG Bau sowie der französischen CGT und Sud zusammen.

Die aus der einstigen Solidarność hervorgegangene kämpferische Sierpień 80 gelang noch ein weiterer Clou. Anders als die völlig inkompetenten Gewerkschaftsbürokraten erkannte es die Besonderheiten der Globalisierung in diesem peripheren Land: prekäre Arbeitsverhältnisse und Themen wie Migration, Antikriegsbewegung, Feminismus oder den Bologna-Prozess. Die Verknüpfung traditioneller linksradikaler Themen mit Arbeitskämpfen stellt die Gewerkschaft Sierpień 80 jedoch vor eine Herausforderung. Denn durch die zwei Jahrzehnte andauernde Vernachlässigung der Arbeiter durch die postkommunistische Linke, die ja bereits vor 1989 als Adressat der Arbeitskämpfe verstanden wurde, gelangten die Arbeiter unweigerlich oft unter die Fittiche der katholischen Kirche bzw. unter Einfluss rechter Erklärungsansätze. Schuld daran trägt auch die außerparlamentarische Linke, die nicht in der Lage war einen Arbeitsbegriff zu entwickeln und so linksradikale Themen wie Kampf gegen Gentrifizierung, selbstbestimmtes Leben und Antikriegsengagement in die Arbeiterbewegung zu übersetzten. Unterdessen nahmen die Arbeiter selbst die Initiative in die Hand und es bleibt zu hoffen, dass sich daraus eine neue breite Widerstandsbewegung gegen den Kapitalismus formieren wird.

Kamil Majchrzak ist deutsch-polnischer Jurist und Redakteur der polnischen Edition der Le Monde Diplomatique und des ostdeutschen telegraph.

Info:
Gleichzeitig erschienen in Prager Frühling # 04 Juni 2009

Michal Stachura | 02.10.09 20:41 | Permalink