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Den Bauern dienen

»Kunst für Millionen – 100 Skulpturen der Mao-Zeit«
von Jürgen Schneider

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HOF FÜR DIE PACHTEINNAHME, 1974-1978 (ORIGINAL 1965)
DIE WORFLER (DETAIL)
Fiberglas
Ausstellungsansicht Shanghai Art Museum, 2009
Foto: Norbert Miguletz für Schirn Kunsthalle
© und Courtesy of Art Museum of the Sichuan Fine Arts Institute

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong vom Tor des Himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik China aus. Auf den Tag genau 16 Jahre später wurde auf dem einstigen Anwesen des 1949 gestorbenen Großgrundbesitzers Liu Wencai im Landkreis Dayi, Provinz Sichuan, ein Skulpturenensemble zur Besichtigung freigegeben, das später den Namen »Hof für die Pachteinnahme« bekam. Das narrativ angelegte Ensemble, ein Mikrokosmos der alten despotischen Gesellschaft, besteht aus 114 lebensgroßen Trockenlehmfiguren und wurde in mehreren Varianten nachgebildet. Die Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main, zeigt derzeit unter der Überschrift »Kunst für Millionen – 100 Skulpturen der Mao-Zeit« eine zwischen 1974 und 1978 aus verkupfertem Fiberglas als mobile Reisefassung gefertigte und aus 103 Figuren bestehende Version. Diese »Momentaufnahme in der 45jährigen Rezeptionsgeschichte«, wie die Kuratorin Esther Schlicht die Skulpturengruppe aus Fiberglas nennt, wird erstmals im Westen gezeigt. Harald Szeemann hatte 1972 als künstlerischer Leiter der »documenta 5« versucht, den »Hof für die Pachteinnahme« nach Kassel zu holen. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings, vermutlich am »Nein« von Maos Frau Jiang Quing, wie Feng Bin, Direktor des Kunstmuseums der Kunstakademie Sichuan und Leihgeber, während der Pressekonferenz vorsichtig spekulierte.

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HOF FÜR DIE PACHTEINNAHME (1965)
DEN PACHTZINS ABLIEFERN
Trockenlehm
Historische Ausstellungsansicht in Dayi
© und Courtesy of Art Museum of the Sichuan Fine Arts Institute

Albanien hatte bereits 1967 eine Gruppe aus insgesamt 99 Gipsfiguren bekommen, die – so Christof Büttner im Katalog zur Schirn-Ausstellung »dem Original nur noch wenig glich«, von der Enver Hoxha, Volk und Partei in einem, jedoch so begeistert war, dass er sie einbehielt. Was mit den Gipsfiguren geschah, nachdem Hoxha mit der VR China gebrochen hatte, können sicher die einstigen westdeutschen Apologeten dieses »Felsens in der Brandung der Reaktion« erhellen.

Im Juni 1965 hatten Lehrer und Absolventen der Bildhauerklasse der Kunstakademie Sichuan in Chongquing vom Kulturministerium der Provinz den Auftrag erhalten, in Dayi ein der Klassenkampferziehung dienendes Werk zu schaffen, das an die Ausbeutung der Pachtbauern durch den örtlichen Großgrundbesitzer Liu Wencai vor dem Sieg der Volksbefreiungsarmee erinnern sollte. Die Bildhauer arbeiteten nicht nur mit lokalen Volkskünstlern zusammen, sondern auch »bei offener Tür« – die Bauern sollten sich jederzeit an den Diskussionen um das zu erstellende Werk beteiligen und als Korrektiv fungieren können. Auf künstlerisch-technischer Ebene schufen die Künstler ein Novum, indem sie fünf Elemente zusammen brachten: »eine Verbindung der Formensprache der klassischen und klassisch-modernen europäischen mit jener der sowjetischen sozialistisch-realistischen Bildhauerei; die volkskünstlerische Technik der chinesischen Trockenlehmplastiken sowie einen Sonderweg gleichzeitig buddhistischer und säkularer Steinbildhauerei der Song-Dynastie und die Beobachtung am Lebenden Objekt ›Dorfbewohner‹.« (Christof Büttner) Das ideologische Rüstzeug bildete die Kunsttheorie Maos, vor allem dessen ›Reden bei der Aussprache in Yan’an über Literatur und Kunst‹ von 1942. Auf der inhaltlichen Ebene entwickelte das Kollektiv eine narrative Struktur in sieben Szenen, von der Ankunft der Pachtbauern im Hof über die Kontrolle der Getreidequalität, die Konfrontation mit dem Grundbesitzer, die Bestrafung derer, die ihre Pacht nicht in toto aufbringen können bis zu den »Flammen des Zorns«. Gemäß dem Mao-Zitat »Für alles Reaktionäre gilt, das es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt« verlässt eine Gruppe junger Bauern zum Widerstand entschlossen den Hof. Zwar wurde die Skulpturengruppe von Jiang Quing im April 1966 zum Modellkunstwerk erklärt, im Laufe der Kulturrevolution geriet sie jedoch mehr und mehr ins Kreuzfeuer der Kritik – die Bauern seien zu sehr als Opfer und die Entschlossenen nicht entschlossen genug dargestellt. 1970 wurde der Installation in Dayi eine kämpferische und Mao huldigende Schlussszene hinzugefügt. Nur so konnte die Gesamtinstallation unangetastet bleiben.

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HOF FÜR DIE PACHTEINNAHME, 1974-1978 (ORIGINAL 1965)
DEN PACHTZINS ABLIEFERN (DETAIL)
Fiberglas
Ausstellungsansicht Shanghai Art Museum, 2009
Foto: Norbert Miguletz für Schirn Kunsthalle
© und Courtesy of Art Museum of the Sichuan Fine Arts Institute


Die in Frankfurt gezeigte Fiberglasversion kommt ohne diese Schlussszene aus – als sie fertig gestellt wurde, gehörte die Kulturrevolution der Vergangenheit an und der Große Steuermann Mao lag längst im Mausoleum. Die hyperrealistische Fiberglasversion des »Hofes für die Pachteinnahme« ist sehr viel feiner gearbeitet, von größerer handwerklicher Präzision als das unter großem Zeitdruck und in Lehm erstellte Originalensemble. Das Leiden der Pachtbauern wird ebenso beredt wie es in die propagandistische Pflicht genommen wird.

Ob sich freilich die Hoffnung des Schirn-Direktors Max Hollein erfüllen wird, die Ausstellung möge eine Diskussion um die weitgehend unerforschte visuelle Kultur der Mao-Zeit eröffnen, ist angesichts erster journalistischer Reflexe fraglich. Von »revolutionärem Disneyland« ist da ebenso die Rede wie von »Propagandakunst von riefenstahlscher Qualität«. Vor allem aber bewegt die kritischen Kritiker die Frage, ob denn ein Großgrundbesitzer statt Schurke der Pachteinnahme nicht ein guter Mensch sein könne. Als leite, wie schon Marx wusste, das Recht des Grundeigentümers seinen Ursprung nicht vom Raub ab, als fange mit dem Grundbesitz nicht die Herrschaft des Privateigentums an, als sei dieser nicht dessen Basis. Den alten chinesischen Bäuerinnen, die nach langem Fußmarsch am 1. Oktober 1965 mit ihren Stöcken auf die Figur des Aufsehers einschlagen wollten, war dies bewusst.

»Kunst für Millionen – 100 Skulpturen der Mao-Zeit« in der Schirn Kunsthalle Frankfurt/M., bis zum 3. Januar 2010. Der Katalog (dt./engl.) kostet 27,80 Euro.
www.schirn.de

A.S.H. | 28.09.09 15:06 | Permalink