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Der II. Weltkrieg reloaded: Seit 5:45 wird jetzt revisionistisch zurückgeschossen

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Münchener Abkommen '38 oder Hitler-Stalin-Pakt '39?: Neville Chamberlain, Edouard Daladier, Adolf Hitler, Benito Mussolini, Galeazzo Ciano (im Hintergrund des Duce Ernst Weizsäcker) Quelle: Deutsches Bundesarchiv

Wer bislang glaubte die normative Kraft des Revisionismus im wiedererstarkenden Deutschland sei harmlos, der wird mit einem äußerst widerlichen Versuch der Bundesbeauftragten für die Verhinderung einer Geschichtsaufarbeitung und nachrichtendienstlichen Weiterführung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auch bekannt als BStU oder Birthler-Behörde etwas anderen belehrt.

Die BStU legt in ihrer jüngsten Erklärung nahe nicht den 1. September 1939 zu Gedenken mit dem die deutschen Faschisten den Grundstein für die Ermordung von 6 Millionen Polen, die Hälfte davon Juden, sondern vielmehr den 23. August 1939, den Tag an dem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde und in einem Geheimanhang auch die (vierte) Teilung Polens vorsah.

Die Erklärung beteuert zwar die deutsche Schuld am Ausbruch des II. Weltkrieg: "Und so erinnern wir mit Scham und Trauer an den 1. September vor 70 Jahren, als das nationalsozialistische Deutschland Polen überfiel.“, doch ist explizit nicht der 1. September 1939 der hier Anlass ist, sondern vielmehr nur ein Aufhänger. An der ritualisierenden Form solcher Sätze, die selbst dann eingefügt werden, wenn es der semantischen Motivation des Kontexts gar nicht entspricht, wird die Heuchelei der „Geschichtsbewältiger“ eher als "Aufarbeiter" deutlich.

Durch einen atemberaubenden Akt des Funambulismus verbindet die BStU den Überfall auf Polen mit einem Aufruf das Jahr 1989 zu feiern. In diesem Sinne fordert sie dazu auch auf, die Deutsche Verantwortung für den Überfall auf Polen 1939 der Sowjetunion oder dem Kommunismus unterzujubeln. In einer Pressemitteilung heißt es dazu "Die Erklärung erinnert daran, dass der von Deutschland 1939 begonnene Zweite Weltkrieg die Ursache der europäischen Teilung war. Sie würdigt zugleich die Freiheitsbewegungen in den kommunistischen Diktaturen, die in die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 mündeten und die Voraussetzungen schufen, die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden."

Der Tag der Expansion des Faschismus wird so zu einem Kalenderblatt ... "der Behinderung der Europäischen Einigung". Herausgerissen aus seinem historischen Kontext wird er dabei als Wohltat an die vom Kommunismus unterdrückten Völker serviert. Die „Europäische Einheit“ als Rettungstat für die bedrohten europäischen Völker gegenüber der geistigen Bedrohung des Bolschewismus ist eine weiß Gott traditionell deutsche Tugend, die 1989 mit dem Mauerfall ein „glückliches“ Ende fand.

Damit stellt sich Marianne ungewollt an die Seite eines anderen „großen“ deutschen Europäers, dem die Sorge um Europa mindestens ebenso am Herzchen lag. In seinem Tagebuch notierte dieser am 8. Mai 1943: „Der Führer hat die Konsequenz gezogen, dass das Kleinstaatengerümpel, das heute in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muss. Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann aber eine klare Organisation nur durch die Deutschen erfahren“.*

Die traurige Ironie der Geschichte liegt nun darin, dass im Sinne der praktischen Politik der Sieg Hitlerdeutschlands über der Sowjetunion, als Allegorie des barbarischen Bolschewismus, bereits unter den damaligen Demokratien als durchaus unterstützungswürdige Idee anerkannt gewesen zu sein scheint. Meint die Birthler-Behörde an dessen Aktualität habe sich bis heute nichts verändert?

Das was am 23. August 1939 geschehen ist war bekanntlich nur der letzte Schlussstrich der von Heuchelei befreiten Realpolitik, eben jenes europäischen Projektes an dem die BStU –so scheint es zumindest, wenn man der jüngst veröffentlichten Erklärung folgt- wohl emsig mitarbeiten will. Doch Stalin ist lediglich ein Schüler der Daladiers und Chamberlains die mit ihrer Appeasement-Politik alles unternommen hatten, damit die deutsche Expansion ungestört voranschreiten kann. Solange diese Expansion vermeintlich nur in süd-östlicher Richtung hinsteuerte, waren diese Demokraten gerne bereit Hitler selbst dann aus dem Weg zu gehen, wenn deutlich wurde, dass der Preis dieser Expansion notwendigerweise auch die Ermordung zahlreicher Völker in Osteuropa umfassen wird. Chamberlain musste bekanntlich erst nach dem Überfall der deutschen Faschisten auf Norwegen 1940 zurücktreten. Was will uns nun Marianne Birthler für eine Geschichtslektion verpassen?

Der II. Weltkrieg sei ein kommunistisches Komplott gegen das Europäische Projekt, dass am 23. August 1939 besiegelt wurde?

War somit die von Groß Britannien, Frankreich und anderen Staaten geübte Nachsicht beim Anschluss Österreichs im März 1938 oder der Annexion von Teilen der Tschechoslowakei im Herbst 1938 auch nur Ausdruck der Anerkennung der Weitsichtigkeit Hitlers und des deutschen Geistes der europäischen Einheit, die schließlich zum Fall der Berliner Mauer führte? Das der Anti-Kommunismus damals wie heute auf beiden Augen Blind ist was den Aufstieg des Faschismus angeht bezeugt schon Polens Teilnahme an der Zerstückelung der Tschechoslowakei. Am 21. September 1938 marschierten an der neuen europäischen Ordnung schadenfreudige Polnische Soldaten in der tschechischen Region Zaolzie/Zaolší (dt. Olsa-Gebiet) ein. Ein Jahr später machte es ihnen Stalin nach und marschierte am 17. September 1939 in Ostpolen ein. Welches Datum sollten wir nun feiern, den Tag als Chamberlain am Londoner Flughafen nach seiner Rückkehr aus München mit einem leeren Blatt Papier vor den Journalisten wedelte und stolz verkündete, er habe Hitler beschwichtigt? Vielleicht den Tag des Einmarsches polnischer Einheiten in Zaolzie? Natürlich, bietet den heutigen Machthabern eine Zusammenkunft von Ribbentrop und Molotow eine viel genehmere Basis um ihr zerrissenes europäisches Projekt zu legitimieren als die Versäumnisse Europas bei dem aufhaltsamen Aufstieg des A.H.

Wenn wir also heute vom 23. August 1939 sprechen dürfen, dann nur im Kontext vom 29. September 1938, dem Tag an dem der britische Premierminister Chamberlain, der französische Ministerpräsident Daladier, Benito Mussolini und Adolf Hitler das Münchener Abkommen unterzeichneten. Auch ein gewisser Ernst Weizsäcker (Paps von Richard…denn wirklich europäische Gedanken liegen in der deutschen Familie) war dabei.

In diesem Sinne geht mir die Behinderung der Europäischen Einigung am Arsch vorbei. Genauso wie der der angebliche Widerstand der Scholls, Stauffenbergs und Dönhoffs, die sich von den esoterischen Nebelbomben über ein "Geheimes Deutschland" eines Stefan George ins Hirn scheißen haben lassen und heute als Anti-Hitler-Widerstand von dem Nachfolgerstaat des III. Reiches ikonisiert und gefeiert werden. Aus polnischer Sicht ist es mir egal, ob wir Polen in ihrer europäischen Neuordnung von einem Anstreicher, Poeten oder ostpreußischen Junkern in den Ofen geworfen werden sollen. In allen Fällen waren wir zur Versklavung und Kolonisierung vorgesehen.

Was Marianne Birthler hier ausdauernd versucht ist unlängst bekannt, am Ende soll die Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus einen historischen Kontext inszenieren bei dem auch eine Gleichsetzung von DDR und III. Reich möglich wird. So kann die heutige bürgerliche Demokratie und der Mauerfall 1989 als geistige Rettungstat der Einheit Europas dargestellt werden.... die ihre geschichtlichen Vorläufer haben soll. Im Widerstand des "deutschen Geistes" gegen den Kommunismus etwa?

Nur wer, sich einmal auf das heikle Spiel einlässt Geschichte so zu manipulieren und Brüche als Kontinuitäten darzustellen, der wird am Ende womöglich auch als unangenehmen Nebeneffekt auch seine bürgerliche Demokratie vor diesem Hintergrund rechtfertigen müssen. Ohne die Regeln der Logik zu verlassen, führt allerdings dann kein Weg mehr dran vorbei die Ursprünge der eigenen Demokratie in jenen dunklen Kapiteln der Geschichte wiederzufinden, die man behauptet überwunden zu haben. Denn vom Standpunkt der Ideologie her, hat das Münchener Abkommen mit der Münchener Sicherheitskonferenz nicht nur die Nennung einer bayerische Stadt gemeinsam. Dann wirken auch persönliche und familiäre Kontinuitäten ziemlich peinlich. Dann aber muss sich dieser so demokratische Staat auch Fragen gefallen lassen, warum bereits sein erster Nachkriegspräsident Theodor Heuss nicht nur jener war, der auf den 2-Mark Münzen geprägt wurde, sondern mit anderen halben oder ganzen Unterstützern des aufkeimenden Faschismus am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte; warum sein Nachfolger Heinrich Lübke gemeinsam mit Hitlers Lieblingsarchitekten Albert Speer ein KZ-Baumeister gewesen ist, warum zwei weitere Bundespräsidenten der „demokratischen“ BRD wie Walter Scheel und Karl Carstens Mitglieder der NSDAP gewesen sind? Von den zahlreichen anderen Staatsbeamten auf viel niedrigerer Stufe ganz zu schweigen. Was hat wohl Richard Weizsäcker motiviert seinen Vati Ernst vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg zu verteidigen? Hatte er etwa an seiner Schuld als Kriegsverbrecher gezweifelt als er mit Gräfin Dünnschiss im Winter 1945/46 nach Nürnberg kam? War damals seine antifaschistische Grundhaltung noch nicht oder nicht mehr ausgeprägt? Die ganze Nachkriegsgeschichte der demokratischen BRD ist ein elend stinkender Lügenhaufen, der seit 1989 auch noch der Gesellschaft der ehemaligen DDR verordnet wird. Wenn dies in Deutschland klappen sollte, so sollte man aber nicht so naiv sein zu glauben, dass Gesellschaften die keine KZ-Wächter in der eigenen Familie haben, sondern Auschwitz-Überlebende diese Scheiße fressen werden.

So ähnliche Assoziationen weckt bei mir Marianne Birthlers „Kalenderblatt“. Allerdings kann die Geschichtsklitterung der Deutschen nicht widerspruchslos hingenommen werden, wenn sie erneut ihre Mäuler aufreisen zu Themen bei denen sie lieber die Schnauze halten sollten. Insbesondere dann, wenn die Deutschen den Polen schon wieder ihre eigene Geschichte erklären wollen, ihre Rolle in Europa, wer Täter und wer Opfer gewesen ist, und das ganze noch in einer unmöglichen Translation ins Goebbels-Polnisch. Deutschland halt doch endlich das Maul!

Anmerkungen
* so Propagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, siehe: Hans Adolph Jacobsen: Der Weg zur Teilung der Welt. Politik und Strategie 1939-1945, Koblenz, Bonn 1977, S. 271 f.

Michal Stachura | 29.08.09 13:26 | Permalink