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»Futurismo – F.T. Marinetti«

– 100 Jahre Futuristisches Manifest

Von Reinhard Sauer und Jürgen Schneider

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Vielleicht waren ja an allem ganz einfach die Radfahrer schuld? Denn wenn sie nicht dem unbeholfenen italienischen Dandy Filippo Tommaso Marinetti in seinem neuen Automobil in die Quere gekommen wären, dann wäre er vielleicht auch nicht im Straßengraben gelandet und nie auf die Idee gekommen, nicht dadurch inspiriert worden, den »Futurismus« zu verkünden – als Schleudertrauma sozusagen. Es ist schon bezeichnend sowohl für die Widersprüchlichkeit des italienischen Futurismus als auch für die Person seines Erfinders und Oberhauptes, des fanatischen Modernisten Marinetti, dass ausgerechnet die Bewegung, die »die Schönheit der Geschwindigkeit« verkündete und behauptete, »ein Rennwagen, … ein aufheulendes Auto« sei »schöner als die Nike von Samothrake«, sowie »den Mann besingen« wollte, »der das Steuer hält«, ihren Ursprung in einem Autounfall hatte.

Marinetti, der Vergötterer des Automobils, hatte sich gerade einen fast 100 PS starken Isotta Fraschini geleistet. Solch einen Wagen zu fahren war nicht gerade einfach, besonders nicht für so einen ungeduldigen und lebhaften Mann wie Marinetti. Sein Fahrlehrer riet ihm daher auch sofort zu einem Chauffeur. Aber wenn er sich nach und nach selbst Chinesisch beibringen könne, warum solle er dann nicht auch Autofahren lernen, meinte der junge Dichter, der es mit der Deklamation symbolistischer Poeme in Italien zu ein wenig Ansehen gebracht hatte und es schaffte, eine Fahrerlaubnis zu erlangen. Doch nach bloß vier Monaten war es mit der Freude am Lenkrad auch schon vorbei: Am 15. Oktober 1908 machte er mit seinem befreundeten Automechaniker Ettore Angelici eine Probefahrt mit seinem Neuwagen und knatterte auf der damals noch am Stadtrand Mailands gelegenen schnurgeraden und leeren Via Domodossola mit nicht besonders hoher Geschwindigkeit dahin, als er plötzlich zwei Fahrradfahrer vor sich sah. Statt zu bremsen, riss er erschrocken das Steuer herum, trat auf die Bremse und landete – Zang Tumb Tumb! – mitsamt Auto und Bordmechaniker im parallel zur Straße verlaufenden Kanal. Hilfsbereite Arbeiter zogen ihn wieder heraus. Damit ist die Mailänder Arbeiterklasse sozusagen unfreiwillig zum Geburtshelfer des Futurismus geworden, denn in diesem Moment ist laut Marinetti das »Manifest des Futurismus« zur Welt gekommen, auch wenn er in dem epischen Vorspann eine abenteuerlichere und spannendere Variante davon auftischt, die vermutlich die erste Darstellung eines Autounfalls in der italienischen Literatur überhaupt ist: »... Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin ... Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich mich mit derselben tollen Trunkenheit der Hunde, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen, scharf um sich selbst drehte, und im gleichen Augenblick sah ich zwei Radfahrer auf mich zukommen, die mich ins Unrecht setzten und vor mir zauderten wie zwei Überlegungen, die beide überzeugend und trotzdem kontradiktorisch sind. Ihr dummes Dilemma spielte sich auf meinem Gelände ab ... Wie dumm! Puh! ... Ich bremste hart und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in einen Graben ...«

Heute führt die Via Domodossola direkt auf das alte Mailänder Messegelände zu, das für die Weltausstellung Expo 2015 in eine Art Central Park verwandelt werden soll, mit drei sehr umstrittenenen Hochhäusern der internationalen Stararchitekten Arata Isozaki, Zaha Hadid und Daniel Libeskind, dessen Gebäude sich wie eine Banane krümmen soll. Die Expo wird nicht nur die Mailänder Skyline total revolutionieren, sondern auch die ganze Stadt auf den Kopf stellen. Schon jetzt kündigt sich eine gigantische Bau- und Immobilienspekulation an, in der Stadt, in der bekanntlich Berlusconi einst als Bauunternehmer durchstartete. Das erste Opfer der Spekulation war das Sozialzentrum Cox 18 in der Via Conchetta mit dem Zeitschriften- und Flugblattarchiv des verstorbenen linken Buchhändlers und Bewegungschronisten Primo Moroni. Das Cox 18 wurde am 22. Januar dieses Jahres geräumt, doch am 15. Februar wieder besetzt.

Aus Schaden, so weiss der Volksmund, wird man klug: Marinetti trug von seinem Unfall eine Prellung am Bein davon und befolgte für den Rest seines Lebens den Rat des Fahrlehrers, sich lieber chauffieren zu lassen. Die Namen der beiden Radfahrer sind leider nicht überliefert, aber – Ironie des Schicksals–, die schon am Vorabend des Kriegseintritts Italiens den Krieg propagierenden Futuristen, darunter Marinetti, konnten sich 1915 nur beim ›Bataillon der freiwilligen Radsoldaten‹ melden und mussten ihre Räder auch noch selbst mitbringen. Und den ersten Einsatz absolvierten sie mit den Gebirgsjägern in den Alpen.

Die Pariser Ausstellung zum hundertjährigen Jubiläum des Manifests des Futurismus im Centre Pompidou wurde richtigerweise genau auf den Tag hundert Jahre nach Marinettis Unfall eröffnet – am 15. Oktober 2008.
Marinetti selbst hat immer behauptet, er hätte das Manifest am 11. Oktober 1908 geschrieben, also bereits vier Tage vor dem Unfall. Einerseits hielt der abergläubische Marinetti die Elf für seine Glückszahl, andererseits wollte er glauben machen, das Manifest sei ihm in einem Zug aus der Feder geflossen. Wie aber aus dem Nachlaß Marinettis hervorgeht, der heute in Yale liegt, hat er zwar auch schon vor dem Unfall an dem Text gearbeitet, entstanden ist er aber vermutlich sowohl in französisch als auch in italienisch erst in den Tagen um den Unfall vom 15. Oktober. Lange war er unsicher, wie er diese neue Bewegung nennen sollte und zog dabei solche Namen wie »Elektrismus« und »Dynamismus« in Betracht, selbst ein »Dynamoelektrismus« kam ihm kurz in den Sinn. Aber ob er dann selbst auf »Futurismus« kam oder sich von einem Artikel im »Mercure de France« vom 1. Dezember 1908 inspirieren ließ, in dem von einem Vortrag des katalanischen Intellektuellen und Schriftstellers Gabriel Alomar an der Universität Barcelona aus dem Jahr 1904 mit dem Titel »El Futurismo« die Rede war, ist nicht mehr auszumachen. Klar war: die »jungen und starken Futuristen«, denen »die Zukunft« nicht »versperrt ist, wollen von der Vergangenheit nichts wissen.« Und die Absicht lautete: »Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!«

Ursprünglich hatte Marinetti die Intention, dem Manifest auch ein besonderes, symbolträchtiges Datum zu verleihen, und dabei an den letzten Tag des alten Jahres, den 31. Dezember 1908 gedacht, bzw. als Zeichen des Aufbruchs in die Zukunft und des Anbruchs eines neuen Zeitalters an den ersten Tag des neuen Jahres, den 1. Januar 1909. Doch dann ereignete sich das verheerende Erdbeben von Messina, über das alle Zeitungen ausführlichst berichteten.

Am 28. Dezember 1908 um 5.21 Uhr erschütterte ein schweres, ganze 37 Sekunden lang anhaltendes Erdbeben der Stärke 7,1 auf der Richterskala die Straße von Messina, die Sizilien vom Festland trennt, just an der Stelle, an der nun Italiens Ministerpräsident Berlusconi trotz zahlreicher Proteste von Umweltschützern und Anwohnern eine angeblich erdbebensichere, 400 Meter hohe Brücke über die Meerenge bauen möchte, als wolle er der futuristischen Schwärmerei folgen: »...Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen.« Das Erdbeben von 1908 war die nach Opfern schwerste Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts; ca. 90 Prozent der Stadt Messina wurden zerstört, und auch das gegenüber liegende Reggio Calabria war stark davon betroffen, ebenso die zahlreichen kleineren Küstenorte sowohl auf der sizilianischen als auch auf der kalabresischen Seite. Die auf das Beben folgende Sturmflut verschlimmerte noch die Situation. Viele Menschen, die sich an den Strand bzw. ans Ufer retten konnten, wurden von den Tsunamiwellen verschluckt, Boote und Schiffe kenterten im Meer. Die Zahl der Opfer wird auf über 120.000 geschätzt. Die ersten Hilfsmaßnahmen kamen von russischen und englischen Flotteneinheiten, die sich in der Nähe befanden (»...die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern«). Als erstes traf ein russisches Flottengeschwader mit sechs Kriegsschiffen unter dem Befehl von Admiral Ponomareff ein, das nicht nur erste Hilfe leistete, sondern auch Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ergriff und dadurch die Opferzahl noch erhöhte. Mit den dem zerstörten Gefängnis entlaufenen Sträflingen, die man angeblich beim Plündern erwischte, wurde ebenso kurzer Prozess gemacht wie mit den überlebenden Bewohnern, die in den Trümmern ihrer Häuser nach Angehörigen und Habseligkeiten suchten, was sie dem Standgericht, dass nicht einmal ihre Sprache sprach, schlecht verständlich machen konnten.

Doch die wirkliche große Katastrophe mit dem erklärten Willen, »den Krieg (zu) verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt«, sollte erst fünfeinhalb Jahre später kommen, und da sprachen die Standgerichte an den Fronten Europas zwar sehr wohl die Sprache der auf das Überleben bedachten Soldaten, aber verstehen wollten sie auch diese nicht.

Marinetti ging nun auf, dass weder der letzte noch der erste Tag des Jahres das richtige Datum war: »Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! ... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben.« Dafür hätte nach dem Erdbeben bei einer Zeitung niemand weder Verständnis gehabt noch Platz zur Verfügung gestellt.
Aber kaum einen Monat später hatte er das Manifest schon an alle möglichen Zeitungen in mehr oder weniger wichtigen Städten Italiens verschickt. Bis jetzt sind mehrere Zeitungen bekannt, die schon vor dem »Figaro«, zeitgleich oder kurz danach das Manifest abdruckten oder darüber berichteten: am 5. Februar die »Gazzetta dell’Emilia« in Bologna, einen Tag später der neapolitanische »Il Pungolo«, am 9. die »Gazzetta di Mantova« in Mantua, am 9./10. die »Arena« in Verona, am 10. der »Piccolo della Sera« in Triest, am 14. die neapolitanische Wochenzeitschrift »Tavola rotanda«, am 16. der römische »Giorno« als auch die rumänische »Democratia« aus Craiova in der Kleinen Walachei. Eine erweiterte Fassung des Manifests wurde in der für die Genese des Futurismus wichtigen, von Marinetti seit 1905 herausgegebenen Zeitschrift »Poesia« abgedruckt.
Aber wer würde sich heute noch darum scheren, wenn es nicht am 20. im Pariser »Figaro« erschienen wäre? Marinetti wusste sehr wohl, dass die Provinz ihn und seinen Futurismus ignorieren würde und dass das Manifest, um Aufsehen zu erregen, unbedingt in Paris, der Haupstadt der Moderne, erscheinen musste. Für Gottfried Benn war es denn auch das »Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa.«

In Paris war Marinetti zur Schule gegangen, Französisch war sozusagen seine zweite Muttersprache, und dann gab es da noch einen alten Freund seines Vaters aus Ägypten, der kein ganz so unbedeutender Aktionär einer der führenden Pariser Tageszeitungen war, eben des »Figaro«. Der siebzigjährige Mohamed el Rachi Pascha war ein einstiger Minister und konnte es sich leisten, seinen Lebensabend in einer Villa im maurischen Stil am Seineufer in Paris zu verbringen. Der Frauenheld Marinetti wurde 1876 im ägyptischen Alexandria geboren und ist auch dort aufgewachsen, seine Eltern waren dort zu Vermögen gekommen, von dem der Sohn samt dem von ihm inaugurierten Futurismus noch lange zehren konnte. Zunächst nahm er sich jedoch der etwas molligen Tochter des Herrn Pascha an, Rose Fatine, eine »weiche und schmachtende arabische Schönheit«, die sich mit ihren »Lakritzaugen« auch sogleich in ihn verliebte. Sie verging vor Heimweh nach dem Nil, und so ließ ihr der Vater nicht nur einen Garten mit heimischen Pflanzen anlegen, sondern ihr auch eine Dahabieh bauen, ein Hausboot, wie es auf dem Nil üblich ist. Doch auch damit wurde aus der Seine nun mal nicht der große afrikanische Strom ihrer Heimatstadt Kairo. Der mit allen Wassern gewaschene Marinetti war mit leidenden Frauenherzen vertraut und wusste, was Sehnsucht heißt. Wie es zur Abwechslung mal mit so etwas Exotischem wie einer Gondel wäre, fragte er den alten Herrn. Marinettis orientalische Schönheit erfreute der Gondelvorschlag. In wenigen Tagen stellten geschickte Handwerker ein fast perfektes Modell her – romantisches Symbol der ihrer Vergangenheit nachtrauernden und vor sich hinfaulenden Lagunenstadt Venedig. Im Mondschein, dem Marinetti in seinem zweiten Manifest den Tod wünschte, gondelte das Liebespaar auf der Seine herum. In dem am 1. August 1910 in Venedig vom Uhrtum auf den Markusplatz abgeworfenen Manifest »Contro Venezia passatista«1 sollte es später heißen: »Verbrennen wir die Gondeln, diese Schaukelstühle für Schwachköpfe ... Beeilen wir uns, die kleinen, stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten, einstürzenden und leprösen Paläste aufzufüllen.«

Der Pascha sah das Techtelmechtel nicht ungern. Ein solcher Schwiegersohn wäre ihm ganz recht gewesen, schließlich kannte er ihn schon von klein auf, und er schien es auch nicht auf die Mitgift der Rose Fatine abgesehen zu haben. Nein, das nicht, aber auf die Titelseite des »Figaro« sehr wohl.

Der alte Ägypter war perplex, er wusste nicht so recht, was er machen sollte und lud daher zwei literarisch bewandertere Freunde auf die Dahabieh zum Tee ein. Marinetti deklamierte seine Thesen, fast wie »unter den Moscheeampeln mit ihren durchbrochenen Kupferschalen und auf weichen Orientteppichen«. Die Literaturfreunde belächelten den forschen jungen Mann zwar ein bisschen, aber so schlimm kam ihnen der Text nun auch nicht vor, dass er nicht auf das Titelblatt hätte kommen können. Mit ein bisschen Druck auf den Chefredakteur Gaston Calmette kriegten sie das auch hin.

Vor der Veröffentlichung seines »manifesto« (das im Italienischen sowohl ein Manifest wie ein Plakat bezeichnet) ließ Marinetti, der »reklamistisch« stets versierte PR-Mann in eigener Sache, ein großformatiges Plakat in italienischen Städten aufhängen, auf dem kurz und knapp stand: »Futurismo – F. T. Marinetti«. Ehrlicher war wohl keines der vielen Manifeste, die für die Futuristen paradigmatisch wurden. Sie dienten der Selbstdarstellung und Erklärung der eigenen Werke, Ideen und Ziele – der Schriftsteller und Maler Ardengo Soffici sprach in diesem Zusammenhang von einer »amerikanischen Reklamesucht« Marinettis und seiner Kollegen.

Der Chefredakteur Gaston Calmette aber hatte eigene Gefechte im Sinn. Links auf der Titelseite des »Figaro« stand »Le Futurisme«, rechts »Le complot Caillaux«, ein Artikel, in dem der damalige französische Finanzminister und spätere Premier Joseph Caillaux angegriffen wurde. Das sollte ihn teurer zu stehen kommen als der Gefallen, den er dem alten Aktionär mit seinem verrückten jungen italienischen Bohemien (»Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt…«) gemacht hatte, denn fünf Jahre später wurde er wegen seiner fortgesetzten Pressekampagne gegen Caillaux von dessen Frau Henriette niedergeschossen. Von wegen »Ohrfeige und … Faustschlag«, von wegen »Vernichtungstat der Anarchisten, ... schöne Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes«: Der rechte, militante Chefredakteur der konservativen Zeitung starb an seinen Verletzungen, das Weib, von ihrem Mann verteidigt, wurde freigesprochen. Und Kriegsgegner war der Radikalsozialist Caillaux obendrein auch noch, ganz im Gegensatz zum futuristischen Frontkämpfer Filippo Tommaso, der die arme reiche Rose Fatine gleich nach Erscheinen des Manifests denn auch, wie es vorauszusehen war, sitzen ließ.

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Den Futuristen ging es schließlich um nicht weniger als um die »Neukonstruktion des Universums«. Ihre von einer »italianità« überlagerte »modernolatria« hieß: Technik und industriellen Fortschritt feiern. Dabei, so Paul Virilio, »verschwand das dialektische Spiel zwischen Künsten und Wissenschaften zunehmend zugunsten einer paradoxen Logik, die eine Vorwegnahme der wahnsinnigen Logik der Techno-Wissenschaft ist«. »Der Futurismus«, so Virilio an anderer Stelle, »läßt sich nur durch eine einzige Kunst erschließen, die des Krieges und seines Wesens: die Geschwindigkeit.« Walter Benjamin hatte bereits formuliert: »Der Faschismus erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege.«

Und so stürmte Marinetti denn auch unentwegt dahin, immer in Eile, immer in eigener Sache und für den Futurismus werbend unterwegs, laut, lärmend und in lustiger Gesellschaft, schrieb ein Manifest nach dem anderen und wurde weltbekannt, machte privat oft das Gegenteil dessen, was er öffentlich lautstark verkündete, immer auf Achse, auf den bunten Festen der Kunst und den blutigen Schlachtfeldern der Moderne. Majakowski verpasste er 1914 bei seinem ersten Russlandbesuch, und die Rote Armee verpasste ihn 1942 an der winterkalten Don-Front. Marinetti reiste seinem Duce Mussolini sogar noch bis Salò nach, um kurz vor Kriegsende nach einem schnell gelebten, langen Leben am 2. Dezember 1944 in Bellagio zu sterben und schließlich in Mailand begraben zu werden.
Weitsichtig und klarsehend hatte er schon in seinem ersten Manifest erkannt, wie man dereinst mit ihm und seinen Futuristen umgehen würde: »Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre gebogenen Raubvögelkrallen werden sie ausstrecken, … Aber wir werden nicht da sein! . . . Sie werden uns schließlich finden - in einer Winternacht - auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt, sie werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, zitternd und bemüht sein, uns an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere Bücher von heute geben, die unter dem Flug unserer Bilder auflodern. Sie werden uns alle lärmend umringen, vor Angst und Bosheit keuchend, und werden sich, durch unsere stolze, unermüdliche Kühnheit erbittert, auf uns stürzen, um uns zu töten, und der Haß, der sie treibt, wird unversöhnlich sein, weil ihre Herzen voll von Liebe und Bewunderung für uns sind.«

In Marinettis Manifest mit der Überschrift »Jenseits vom Kommunismus« aus dem Jahr 1919 hieß es: »Unser Verdienst ist es, daß die Zeit kommen wird, in der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird, auch kein Leben des Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. ... Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und Prestige geben. Die Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz, Überraschung, Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.« Angesichts dieser uneingelösten Versprechen ist es ein Hohn, wenn Feuilletonisten passatistischer Blätter anläßlich des 100. Jahrestages der Veröffentlichung des 1. Futuristischen Manifests sich brüsten, sie lebten nach den futuristischen Manifesten, oder sähen im »Produktdesign« von Rennwagen den Geist der Futuristen weiterleben, die längst auf Sternkugeln unterwegs sind und nach wie vor »die Glühbirne anbeten, in der eine wütende Geschwindigkeit rast«. Die Werke der Futuristen sind derzeit in den Museen jener italienischen Städte zu sehen, die eine Verbindung zu ihnen behaupten – Futurismus overkill. Wie hieß es doch bei Marinetti: »Wir wollen die Museen ... zerstören. ... Museen: Friedhöfe! ... Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhaßten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten!«

1) passata, abgeleitet von dem von den Futuristen geprägten Schlagwort passato; analog zu futuro = Zukunft, passato = Vergangenheit, also rückständig, reaktionär, veraltet.


Abbildungen:

Marinetti in seinem Auto, ca. 1908

Tato, Futuristisches Porträt von Marinetti, ca. 1930

A.S.H. | 20.02.09 09:38 | Permalink