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taz: "telegraph"-Sonderheft zur NS-Zeit

Arm gleich asozial und arbeitsscheu

Die ostdeutsche Zeitschrift "telegraph" erinnert an die Verfolgung von armen Menschen durch die Nazis in der "Aktion Arbeitsscheu". Die Autoren setzen sich dafür ein, dass für die Opfer endlich ein Gedenkort eingerichtet wird. VON PETER NOWAK

"Wie reagieren Sie auf Betteln?" Mit dieser Frage beginnt die Politikwissenschaftlerin Claudia von Gelieu ihren Einleitungsbeitrag im aktuellen Sonderheft der "ostdeutschen Zeitschrift" telegraph. Hier befassen sich auf 175 Seiten WissenschaftlerInnen, AktivistInnen der Erwerbslosenbewegung und linker Gruppen mit einem sehr aktuellen Thema: dem Umgang mit den Armen und der Armut - in der Regel eine Geschichte der Verfolgung und Stigmatisierung der Armen. Heute, wo die vielzitierte Verarmung von Teilen der Bevölkerung durch den Verkauf von Obdachlosenzeitungen, das Sammeln von Flaschen und verschiedene Arten des Bettelns sichtbar wird, ist ein solches Themenheft dringend notwendig.

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Dieser Aufgabe stellte sich der Arbeitskreis "Marginalisierte -gestern und heute", der im vergangenen Jahr mit verschiedenen Veranstaltungsreihen und Kundgebungen hervorgetreten ist und das Sonderheft herausgegeben hat. Die AktivistInnen wollen damit auf den 70. Jahrestag der Aktion "Arbeitsscheu Reich" aufmerksam machen. Unter dieser Bezeichnung haben die Nazis zwei Verhaftungswellen zusammengefasst, durch die im April und Juni 1938 mehr 10.000 Personen als sogenannte Asoziale in Konzentrationslager verschleppt wurden.
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Die Beiträge des Heftes machen deutlich, dass für die meisten Opfer die Verfolgung nach 1945 nicht zu Ende war. Nicht nur in der DDR war, wie der Rechtsanwalt Sven Korzillus nachweist, "asoziales Verhalten" im Strafgesetzbuch von 1968 verankert. In Westdeutschland trafen die in der NS-Zeit als asozial Verfolgten in den Behörden oft auf das gleiche Personal, das sie weiter mit Schikanen und Sanktionen belegte. Wie aus der Antwort einer Kleinen Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke hervorgeht, haben von den mehreren zehntausend Opfern der Asozialenverfolgung nur 205 Personen eine Entschädigung von insgesamt 2.554 Euro erhalten.

In dem Heft werden neben diesen wenig bekannten Fakten auch die Stätten benannt, die in Berlin für Armutshilfe und -verfolgung standen. Für Erstere steht der wenig bekannte Berliner Asylverein, der 1868 in der Weddinger Wiesenstrasse 55-59 eröffnet worden war. 1907 wurde er um ein Asyl für Frauen erweitert. Oberstes Ziel war der Schutz der Asylbedürftigen auch vor der Staatsgewalt. Darum konnten sie auch anonym bleiben. Aber es klingt einem nicht unbekannt, wenn der Journalist Klaus Trappmann in seiner Geschichte dieses Vereins berichtet, wie sich schon bald die wohlhabenden Nachbarn gegen den Asylverein wehrten und dabei von rechten Kreisen unterstützt wurden. "Juden und Sozialdemokraten wird nichts bewilligt", lautete eine Reaktion auf den Spendenaufruf des Asylvereins, in dessen Vorstand auch SPD-Politiker wie Paul Singer mitarbeiteten.

Für die Armutsverfolgung in Berlin stand das Arbeitshaus an der Rummelsburg, das im vorigen Jahr durch die Aktivitäten des "Arbeitskreis Marginalisierte" breiter bekannt gemacht wurde. Die 1877 eröffnete Einrichtung war das größte Arbeitshaus in Deutschland, wie der Politologe Thomas Irmer in seinem Beitrag betont. Er setzt sich gemeinsam mit den AktivistInnen des Arbeitskreises dafür ein, dass es als Gedenkort für die Verfolgung der Armen und der als asozial Stigmatisierten erhalten bleibt. Doch mittlerweile ist die Gegend an der Rummelsburg zum begehrten Objekt für komfortables Wohnen am Wasser geworden. Droht hiermit abermals die Entsorgung eines Erinnerungsortes, wie Lothar Eberhardt in seinem Beitrag befürchtet? Der "Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute" hat Widerstand angekündigt und sucht UnterstützerInnen für den Erhalt des Erinnerungsortes für die als asozial Stigmatisierten.

Das Heft, dem weitere Verbreitung zu wünschen ist, könnte dabei eine Hilfe sein. Der telegraph wurde mit diesem Sonderheft seinen Anspruch gerecht, eine ostdeutsche Oppositionszeitung zu sein, die es auch nach der Wende nicht aufgegeben hat, für die politisch und sozial Ausgegrenzten einzutreten. (Quelle: taz.de)

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A.S.H. | 06.01.09 09:19 | Permalink