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Restefest eines filmischen Großprojektes

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Foto: www.kinder-von-golzow.de

Der letzten Films der Langzeitdokumentation “Die Kinder von Golzow” von Barbara und Winfried Junge

Von Angelika Nguyen

Die kleine sechsjährige Brigitte sitzt mit ihren blonden Rattenschwänzchen in der Schulbank und formt mit ihrem Mund im Chor mit den anderen ein “A”. Dann gefriert das Bild. Es bleibt unvergesslich im Gedächtnis. Über Jahre sehen wir Brigitte immer dicker und unsicherer werden, von den anderen nicht anerkannt, nach der 8.Klasse in die Lehre gehen, mit 17 Mutter werden, mit 20 vor der Kamera sagen, dass sie zu den Lehrern kein Vertrauen hatte, mit 23 bei der Einschulung ihres eignen Kindes, wir sehen ihre Einsamkeit, ihr berufliches Unglück und ihr Glück mit ihrem kleinen Sohn. Wenn wir das Gesicht der erwachsenen Brigitte sehen, denken wir an das Kind.

Es begann 1961 mit einem kleinem zauberhaften Dokumentarfilm, der ganze 13 Minuten lang war.

“Wenn ich erst zur Schule geh” war ein Film über Schulanfänger, die im Sandkasten gefragt werden, was sie denn mal werden wollen. Hier traten zum ersten Mal, sechs- und siebenjährig, Brigitte, Jürgen, Elke, Marie-Luise, Dieter und die anderen vor die Kamera, intelligente, zarte, neugierige Kinder. Sie sitzen schüchtern vor den Fragen der Lehrerin und der Filmleute. Sie sagen ihren Namen und ihren Berufswunsch. Fertig war der Film. Aber es endete damit nicht. Nach diesem Film enstand die Idee einer Langzeitdokumentation, die immer wieder nach Golzow zurückkehren sollte und gucken, was denn aus den einzelnen Kindern so wurde. Aufgabe war es, die gewachsenen Bildungsmöglichkeiten auf dem Lande in der DDR zu dokumentieren (10-Klassenabschluss war erstmals möglich), in einem Ort im Oderbruch, gezeichnet vom letzten Weltkrieg. Und es sollte anders kommen. Die Geschichte des Projektes ist auch die Geschichte vom Aufstieg und Scheitern eines Landes, eines ganzen politischen Systems. In erster Linie jedoch ist es das Live-Porträt von Menschen, deren Leben mit diesem Scheitern auf immer verknüpft ist. Die Dokumentation, die der Beweis für den Sieg der Bildung auf dem Lande sein sollte, kam das Leben in die Quere. Notgedrungen kam es zu Konflikten zwischen Filmemachern und den Geldgebern, dem sozialistischen Staat selbst. Als sich zeigte, dass einige Kinder keine guten Vorbilder abgeben würden, zum Beispiel bereits nach der 8. Klasse abgingen, die Lehrerschaft und deren Methoden kritisierten, mit ihrem Elternhaus nicht klar kamen, gab es Kritik und Drohungen, dass Projekt nicht weiter zu finanzieren. Das Golzow-Projekt wurde immer wieder gerettet. 1980, als man fast 20 Jahre Material zu 9 Einzelporträts in über 4 Stunden künstlerisch sehr gelungen zu dem Mammut-Dokumentarfilm “Lebensläufe” zusammen fasste, passte das Golzow-Projekt wiederum zur gewissen neuen Offenheit im Land, zu einer Neugier auf Widersprüchliches und wurde, was nicht selbstverständlich war, zu einem Publikumsrenner.

Es gab aber auch Probleme im Projekt selbst. In manchen Kreisen von Dokumentarfilmern wurde der Golzow-Film intern aus künstlerischen Gründen abgelehnt. Man kritisierte die Interviewmethoden des Regisseurs, die tatsächlich zum Teil fragwürdig sind. Ferner gingen einigen die permanente Kommentarschiene aus dem Off auf die Nerven. Die Filme die Kommentare lang und die Gespräche kurz zu halten. Selten baut sich ein Gespräch auf. Meistens war es ein Frage- Antwort-Spiel zwischen dem hinter der Kamera stehenden Regisseur und den Golzow-Protagonisten, die damit zu sehr zum Objekt wurden. Auch die Art der Befragung mutet oft nicht fair an. Junge stellt Suggestivfragen (Brigitte, ob sie nicht wieder heiraten will, den Sohn Marcel, ob er nicht einen Papa will), die in ihrer Indiskretion kaum erträglich sind oder fällt den Protagonisten auch schon manchmal ins Wort. Da ist eine Art Ungeduld im Spiel, die ein Dokumentarfilmer nicht haben darf. So erschien es nur logisch, dass manche Golzower sich nicht weiter filmen lassen wollten, als sie alt genug waren, die Tragweite des ehrgeizigen Projektes für ihr eignes Leben zu durchschauen. Eine ethische Grundfrage des Projektes ohnehin ist es, onb man Biographien von Menschen so unmittelbar,mit Namen und Gesichtern,zur öffentlichen Diskussion stellen darf. In früheren Teilen hat Winfried Junge sich diese Frage wenigstens selbst gestellt. Der Regisseur musste seine Golzow-Filme nach drei Seiten verteidigen: gegenüber dem staatlichen Auftrag- und Geldgeber, gegen Filmkritik und gegen manche Protagonisten selbst.

Nach der legendären Montage von 1980 gab es nur noch einen Film vor dem Mauerfall. Nach dem Einbruch des Kapitalismus auch ins Oderland verkaufte sich das Projekt zunehmend vorrangig mit seinen quantitativen Qualitäten: mit Schlagworten wie “längste Filmdokumentation der Welt”; “mehr als 400 Kilometer und mehr als 40 Stunden Filmmaterial”, “44 Jahre Drehzeit”, als handele es sich um eine sportliche Disziplin fand das Golzow-Projekt seinen USP und damit seinen Platz auf dem Markt. Arbeitslosigkeit war das Gespenst, das ins Leben der Golzower eintrat. Hier zeigte sich die Ironie, dass ein höherer Schulabschlus durchaus von Vorteil war, nicht nur um den Sozialismus aufzubauen, sondern auch um im Kapitalismus möglicherweise Arbeit zu behalten. Die Golzow-Filme nach dem Mauerfall zeigten in Einzelporträts, wie die Golzower nach dem Mauerfall mit Wahlen, Währungsumstellung, Joint Venture, Motivationstrainern, Gebrauchtwagen zurecht kamen. Das wurde noch einmal spannend. Marie Luise, Elke, Jürgen, Dieter, Bernd, Willy, Jochen.

Im letzten Teil des Golzow Projektes gibt es Irritationen, weil der Slogan “längste Dokumentation des internationalen Films” oft nicht mehr stimmt. Einerseits enden die Dokumentationen noch zu DDR-Zeiten (Ilona, Petra) oder bereits Anfang der 90iger Jahre (Gudrun). Viele neue Golzow-Kinder tauchen auf, die man bis dahin nicht kannte und deren Filmmaterial herausgekramt wurde. In deren Leben ist viel Tragik ist zu spüren. Zum Beispiel sitzt die ABM-Kraft Elke als Aufsicht in ihrer eignen Ausstellung im Museum der Golzowkinder. Andererseits werden Protagonisten mit hinein genommen, die in dem Projekt nichts zu suchen haben: Der joint-venture-Experte “Dr, Manfred Großkopf” etwa, der als Erwachsener auftaucht und nie als Kind oder Heranwachsender gefilmt worden war und als Wirtschaftswunder in Golzow aktiv wurde. Das wird dann ein beliebiger Dokumentarfilm. Oder plötzlich wird ein Porträt von Marlies dazwischen geschoben, die ehemalige Lehrerin der Kinder von Golzow, die zu einer anderen Generation gehört und bezeichnenderweise weiter arbeiten konnte und noch Schuldirektorin wurde und im Gegensatz zu vielen Golzow-Kindern Zufriedenheit ausstrahlt. Hier wird die Idee der Golzow-Filme verletzt. Offenbar verführte die Fülle des Materials zur Beliebigkeit in der Auswahl. So erinnert der letzte Teil immer mehr an ein konzeptionsloses Restefest. Auch das Doppelporträt von Gudrun und ihrem Vater, dem LPG-Vorsitzenden, gerät zu lang. Dabei ist Gudrun das Golzow-Kind, nicht ihr Vater.

Unversehens jedoch gelingt dem Filmteam gerade mit diesem Porträt eine fast gespenstische Studie zur unterschiedlichen Generations-Aufnahme des Sozialismus und seiner Folgen. Es ist,ohne es zu wollen,ein Denkmal geworden für alle jene Kinder, die vor ihren Eltern sterben, weil jene den Boden dafür bereitet haben. Arthur Klitzke, 1920iger-Jahre-Generation, war, seit die Tochter laufen konnte, LPG-Vorsitzender und blieb es, bis die Mauer fiel. Unvergesslich und typisch sein kopfschüttelndes Erstaunen, dass er als alter Mann nicht mehr ins Neue gewählt wird. Ein Mann, der, jung dem Nazistaat entronnen, die sozialistische Macht Jahrzehnte lang selbstverständlich und zunehmend blind ausgeübt hat, ein Mann, dem die Selbstverwirklichung täglich Brot und die Anpassung der anderen an seine Person selbstverständlich war. Ein Mann mit dem man reden konnte, so lange man einer Meinung mit ihm war. Gudrun war ihm eine gute Tochter. Obwohl sie, die Klassenbeste und häuslich gut Ausgerüstete, zum Erstaunen aller erst mal Köchin lernte, geriet sie dann doch in die Verantwortung und übernahm nach Parteihochschule doch noch Macht, in einem kleinen Dorf als Bürgermeisterin. Zur Wende war Gudrun etwa Mitte Dreißig, kein Alter eigentlich, aber Gudrun ging es nicht gut damit.

Gerade hatte sie doch alles richtig gemacht, gerade wollte sie genauso nützlich und wichtig werden wie der VaterGeschockt, aber äußerlich genauso emotionslos wie seit früher Jugend, saß Gudrun in ihrem Sessel und war, wie sie sagt, enttäuscht. Darin treffen sich Vater und Tochter ein letztes Mal: auch er schüttelt den Kopf über die Wende. Nichts sagt mehr über den Realitätsverlust vieler Funktionäre als dieses Staunen, dieses Kopfschütteln. Was ist denn nun geschehen? Von dem Moment an, als Gudrun ihre erste sinnentleerte Phrase losließ (“weiterhin sollen Frieden und das Wohl des Volkes Richtschnur unseres Handelns sein”), von dem Moment an, als Arthur Klitzke den radikalen Rückzug seiner LPG-Bauern ins Private nicht wahrnahm als politisches Warnzeichen, ging es schief mit dem Sozialismus. Da nahm das, was sie später so überrschte, seinen Anfang und war also genau genommen nicht so überraschend. Der Unterschied ist, dass der LPG-Vorsitzende zufrieden ist mit sich. Er hat sein Leben gelebt. An Gudrun jedoch nagt etwas. Sie, die vor dem Mauerfall Zweifel und möglicherweise Wut unter einer immer steinerneren Miene vergrub (die Kamera hat das über die Jahre mitverfolgt), hat nie wirklich angefangen mit dem Leben. Im Gegenteil, nach dem Mauerfall macht sie sich, zumindest bis zum Ende der Dokumentation, ans Sterben. Ihr Gesicht wird noch maskenhafter, der Mund nur noch ein Strich. Sie sieht älter aus als ihr Vater. Dies ist, ohne es zu wollen, das Porträt zweier Generationen, die ihren Konflikt nie wirklich ausgetragen haben und in dem die Kinder geopfert wurden. Wie sie seither damit zurecht kommen, ist individuell verschieden, aber so manche sind darüber zugrunde gegangen. Manchmal reicht es eben nicht, genug zu essen zu haben.

Vor den Vätern sterben die Söhne, schrieb einst der Dichter Thomas Brasch, der daraufhin die DDR verließ. Prophetie und Tiefblick dieses Satzes, ein Satz für die Hineingeborenen, bestätigten sich zufällig und eindrucksvoll in dieser Langzeitdokumentation von 1961 bis 2005.

“Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute” so der Titel des letzten Golzow-Teils. Dabei, so zeigt die Doku, gibt es zwei Todesarten, der direkte körperliche Tod und der indirekte, das Totsein bei lebendigem Leib. Zwei der Golzower liegen schon jung begraben. Jürgen, der die Katze in der ersten Klasse malte, starb 2006 an Krebs.

Und auch Brigitte, die Kleine von damals, ist tot. Sie hat den Mauerfall nicht mehr erlebt. Sie starb mit 29 Jahren.

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Und wenn sie nicht gestorben sind,
dann leben sie noch heute.
Die Kinder von Golzow
Das Ende der unendlichen Geschichte

DVD voraussichtlich erhältlich 2008
http://www.kinder-von-golzow.de/


A.S.H. | 28.02.08 15:17 | Permalink