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»Das Chaos ist ein Zeichen für den Fall des Systems«

Gespräch mit Immanuel Wallerstein. Über die Grenzen des Kapitalismus, den Charakter der Epoche und das Scheitern des Neoliberalismus

Das Gespräch führte Maciej Wisniewski von der polnischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique

Immanuel Wallerstein (geb. 1930) lebt als emeritierter Professor für Sozialwissenschaften in den USA. Ursprünglich Experte für Afrika wurde er als Historiker und Theoretiker des Kapitalismus weltweit bekannt. Sein Hauptwerk »Das moderne Weltsystem« erschien zwischen 1974 und 1989 in drei Bänden (dt. 1986). Wallersteins Arbeiten wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Nach Ihrer Ansicht leben wir in Zeiten des Chaos, das die gesamte kapitalistische Weltökonomie erfaßt, und zusammen mit ihr geht die »Welt, wie wir sie kennen« ihrem Ende entgegen.

Ja, aber das Chaos ist nur ein Symptom, ein Anzeichen für den Fall eines konkreten historischen Systems, das seit 500 Jahren existiert und – in einem gewissen Sinne – sehr erfolgreich war, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Grundsätzen. Es hat aber bereits seine Grenze erreicht und ist nicht mehr in der Lage, die Mechanismen zu nutzen, die es im Gleichgewicht halten würden. Wir leben in einer Phase großer, stürmischer Fluktuationen, die einen ökonomischen, politischen, kulturellen und intellektuellen Charakter aufweisen. Die Leute zerbrechen sich den Kopf darüber, was eigentlich geschieht, sie sind bedrückt. Das ist normal, sie verstehen die um sie herum ablaufenden Prozesse nicht. Keins der Dinge, an denen wir festhielten, keine der Wahrheiten, die uns umgaben, scheinen mehr dieselben zu sein. Das ist der Grund, weshalb die Leute wild, frustriert und natürlich unsicher sind. Das betrifft sowohl gewöhnliche Bürger wie auch die Eliten auf den Gipfeln der Macht. Wir leben in einer sehr schlechten Zeit, wenn es um die persönliche Sicherheit und die Möglichkeit des Vorhersehens von irgend etwas geht.

Aber es ist auch eine gute Zeit, da sie der menschlichen Kreativität mehr Raum gibt. In normalen Perioden haben wir sehr wenig Raum für authentische Veränderungen, während die Epoche des Chaos ihnen zum Durchbruch verhilft. Jede kleinste Aktion hat Einfluß auf den Verlauf des Spiels. Man kann also sagen, daß es eine sehr interessante Epoche ist. Oder wie es ein altes chinesisches Sprichwort sag: »Wir haben das große Glück, in interessanten Zeiten zu leben.«

Wenn wir annehmen, daß jede Krise für gewöhnlich eine Antwort bereithält – welche Lösung, welche Antwort können uns unsere »interessanten Zeiten« liefern?

Sie geben keine Antwort. Sicher ist nur, daß das gegenwärtige System nicht überdauern kann. Es hat Entwicklungsgrenzen verschiedenster Art erreicht, die seine weitere Reproduktion unmöglich machen, deren Form ja die unendliche Kapitalakkumulation ist. Etwas muß sich also ändern. Formell betrachtet nennt sich so etwas eine Bifurkation. Die Situation kann sich zumindest in zwei verschiedene Richtungen entwickeln, aber wir können nicht sagen, welche letztendlich überwiegt. Ich kann dies nur sehr allgemein beschreiben. Die gegenwärtige Welt ist sehr polarisiert und hierarchisch, mit einer privilegierten Gruppe ganz oben und dem ganzen Rest ganz unten, der immer mehr leidet. Wir können demnach eine gänzlich neue Welt schaffen, in der alles beim alten bleibt, die genauso hierarchisch, genauso polarisiert – vielleicht sogar schlimmer – ist, wie diejenige, in der wir leben. Aber wir können auch in die Richtung eines Weltsystems gehen, das relativ demokratischer und egalitärer wäre. Und darum wird gerade auf der Welt gekämpft. Dieser Kampf findet schon seit zehn, 15 Jahren statt und er wird noch 20, 30, 40 Jahre dauern. Deswegen benutze ich die Kategorie der »Übergangsepoche.«

Doch wir wissen nicht, wie diese Übergangsepoche zu Ende geht und ob diese »andere mögliche Welt« besser sein wird?

Das stimmt. Ich bin ein entschiedener Gegner einer Theorie der Aufklärung, die behauptet, daß der Fortschritt unabwendbar ist. Ich propagiere eine Theorie des möglichen Fortschritts: Fortschritt ist möglich, aber ganz bestimmt ist er nicht unvermeidlich. Er ist nicht sicher, und die Geschichte steht auf keiner Seite. In diesem Moment hängt alles von uns ab. Wenn Sie zu mir in 50 Jahren erneut kämen, was Sie nicht tun werden, da ich dann nicht mehr leben werde, könnte ich Ihnen sagen, daß es eine Katastrophe war. Aber ich könnte auch sagen: Wie gut, wir leben jetzt in einer besseren Welt. Ich kann das jetzt nicht feststellen, niemand kann es. Das resultiert nicht aus der Beschränktheit meines Wissens, sondern ganz einfach aus der Unmöglichkeit, das Ergebnis dieses Übergangs vorherzusagen.

Wird die Wiederwahl von George Bush zum US-Präsidenten den Fall des derzeitigen Weltsystems beschleunigen und die Übergangsepoche verkürzen, von der Sie gesprochen haben? Zum Beispiel von 50 auf 30 Jahre?

Ich möchte in solchen Äußerungen keine Zuflucht suchen. Ich denke dennoch, daß die Wiederwahl Bushs den Fall der Vereinigten Staaten als einer Großmacht innerhalb des Weltsystems beschleunigt. Aus rein amerikanischer Sicht ist Bush eine absolute Katastrophe. Nicht durch das, was er in der Innenpolitik macht, sondern durch die Auswirkungen seiner Handlungen auf die Position der USA in der Welt. Anstatt sich zurückzuziehen und an die veränderte geopolitische Situation anzupassen, sprang er plötzlich in den Abgrund. Ich meine, so wird das die Geschichte beurteilen. Bush dachte, daß das, was er tut, die Vereinigten Staaten stärken wird – das war die Logik seiner Handlungen. In der Konsequenz, so glaube ich, hat gerade das die Vereinigten Staaten total geschwächt. Und es hat selbstverständlich Einfluß auf die gesamte Welt. Die USA sind immer noch der mächtigste Staat auf der Welt, in militärischer, ökonomischer und politischer – na, hier vielleicht am wenigsten – Hinsicht, und alle ihre Handlungen haben globale Konsequenzen. Präsident Bushs Politik löst eine weltweite Verwirrung aus, aber sie öffnet auch neue Möglichkeiten. Nehmen wir zum Beispiel Lateinamerika. Bush schwächte die US-amerikanische Fähigkeit, auf diese Region Einfluß zu nehmen, größtenteils dadurch, daß er die gesamte Aufmerksamkeit und politische Energie der Vereinigten Staaten auf den Nahen Osten und Europa lenkte und so keine Zeit für Lateinamerika hatte. Im Endeffekt löste dies die langsame Emanzipation der Länder dieser Region aus. Auf eine sehr spektakuläre Art wurde das bei der Wahl des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten deutlich, als zum ersten Mal nicht der durch die USA unterstützte Kandidat siegte.

Der real existierende Sozialismus war Ihrer Ansicht nach faktisch ein Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft, wodurch er zu nichts »anderem« wurde. In Ihren Analysen ermuntern Sie stets zu einem Blickwechsel auf viele »Gewißheiten« und zu einer erneuten Definition abgenutzter Begriffe. Sollten wir Ihrer Meinung nach den Kapitalismus neu definieren?

Zuerst: Wenn Sie ein solches Argument benutzen, dann müssen Sie fragen, ob der Kapitalismus schon immer existierte. Die Antwort lautet: selbstverständlich nicht. Ich denke, daß der Kapialismus ein System ist, das erst seit 500 Jahren existiert. Zweitens: Kein System ist ewig. Hier berufe ich mich auf eine ganze Strömung in den zeitgenössischen Naturwissenschaften, die »Wissenschaft der Komplexität«, die klar postuliert, daß ineffektive Systeme ihre Existenz beenden. In ihnen gehen dann bestimmte Prozesse vor sich, die Systeme verlieren unausweichlich ihr Gleichgewicht, und wenn dies eintritt, brechen sie zusammen. Das ist wahr in den physikalischen Wissenschaften wie auch a priori bei Gesellschaftssystemen. Kein System lebt also ewig. Jetzt können wir darüber diskutieren, ob das kapitalistische System sich im Zustand einer strukturellen Krise befindet oder noch nicht. Man kann dagegen Einwände erheben, aber wird es deswegen ewig leben? Nein. Kein System lebt ewig.

Sie sagen überdies, daß der Kapitalismus vor unseren Augen stirbt...

Ich sage, daß der Kapitalismus sich in der Krise befindet, weil er den Kapitalisten nicht mehr die unendliche Kapitalakkumulation gewährleisten kann. Das rührt daher, daß sie in Schwierigkeiten mit der »reellen Rentabilität« geraten sind. Diese Schwierigkeiten hatten sie in den ersten 500 Jahren seines Bestehens nicht. Sie waren immer in der Lage, zeitweilige Krisen dank einer Reihe von Mechanismen zu überwinden, die sie nutzten, um den ganzen Prozeß erneut in Bewegung zu setzen. Diese Mechanismen sind an ihre Grenzen gestoßen und tatsächlich nicht mehr verfügbar. Das führt dazu, daß der Kapitalist vor einem gravierenden Problem steht, das er nicht lösen kann. Er ist gezwungen, Wege zu finden, um Gewinne jenseits der warenproduzierenden Sphäre zu realisieren, durch die Spekulation. Seit einiger Zeit findet genau das statt. Die Spekulation ist ein Mechanismus des Geldverdienens, der immer dann in der Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft auftauchte, wenn diese in der Krise war. Das Verdienen an der Produktion war längerfristig die einzige Art, hartes Geld zu erwirtschaften. Das wird immer schwieriger – wenn es nicht überhaupt schon Geschichte ist.

Nach Ihrer Meinung ist der Kapitalismus nicht wegen einer Niederlage, sondern aufgrund seines ungeheuren Erfolges im Fall begriffen?

Das stimmt. In diesem Sinne bin ich ein guter Anhänger von Joseph Schumpeter. Der Erfolg des Kapitalismus führt ihn an den Rand des Abgrunds. Beträchtliche Teile der Weltbevölkerung sind proletarisiert worden, wodurch die Kapitalisten über lange Zeiträume hinweg Zugang zu billiger Arbeitskraft hatten. Heute sind diese Reserven fast erschöpft. Bis jetzt hat man unablässig die Kosten verlagert, um den Eigenkapitalanteil möglichst niedrig zu halten. Die gegenwärtige ökologische Krise blockiert praktisch die Möglichkeiten, auf solche Praktiken weiterhin zurückzugreifen. Wenn z. B. alle Flüsse verschmutzt oder alle Bäume gefällt sind, dann bleibt nichts mehr übrig. In der Vergangenheit konnten die herrschenden Klassen zudem die Strategie der Neutralisierung sozialer Unzufriedenheit vermittels diverser Mechanismen des Wohlfahrtstaates anwenden, die uns ja die allgemeine Bildung, das Gesundheitssystem sowie die Sozialversicherung brachten. So war es seit etwa 200 Jahren, aber die Kosten dieser Lösungen stiegen die ganze Zeit über. Überdies gibt es das Problem der wachsenden Steuerschuld, was ebenfalls die Chancen auf langfristige Profite senkt. Der Kapitalismus erschöpft sich also.

Die Sache ist die, daß seine Entwicklung etwas erreicht, was ich als Symptome der maximalen Grenze bezeichne, bis zu welcher er sich in einer ungestörten Weise reproduzieren kann. In diesem Moment sagt der intelligente Kapitalist: »Es muß noch bessere Möglichkeiten geben, weil die hier ungeeignet sind«. Und er fängt an, nach Methoden zu suchen, die »Dinge besser zu machen«. Das ist eine der Möglichkeiten unserer Bifurkation. Die andere wäre die Suche nach einer generellen Alternative.

Wie würde diese Methode, die »Dinge besser zu machen« aussehen, wie die Suche nach einer »anderen Welt«?

Ich weiß es nicht. Das Problem besteht darin, daß man die Details eines solchen Systems nicht vorhersagen kann. Das ist so, als ob jemand um 1500 sagen würde: »Der Feudalismus in Europa funktioniert nicht mehr, laß uns den Kapitalismus erfinden«, und Sie – als Journalist – würden fragen: »Wie würde das aussehen?« Aber man weiß doch so etwas nicht, weil es aus der Praxis resultiert. Man weiß nur, in welche Richtung man streben sollte. Ich weiß nicht, wie eine egalitäre, oder relativ egalitäre und demokratische Welt strukturell aussehen würde. Ich weiß nur, daß ich in diese Richtung gehen muß, weil ich ansonsten in eine tragische Entwicklung geraten würde, die nur die bestehenden Ungleichheiten und Hierarchien verstärken würde.

Kann man sagen, daß nicht mal der Neoliberalismus den Kapitalismus retten konnte?

Natürlich. Der Neoliberalismus ist ein Versuch, die reellen Arbeitskosten global zu senken, eine Rückkehr zur Externalisierung der Arbeitskosten vermittels konstitutioneller und haushaltspolitischer Veränderungen sowie durch die Reduzierung der Leistungen des Wohlfahrtsstaates. Bei einem beschränkten Horizont kann man von einem begrenzten Erfolg dieser Strategie sprechen: Die Bedrohung wurde vertagt. Das gelang aber nur kurzfristig – aus einer Perspektive, die bis 1970 zurückreicht. Wenn wir uns aber den Zeitraum von 1945 bis 2005 anschauen, dann wird deutlich, daß wir an den Punkt zurückkehrten, an dem wir 1945 waren. Wir haben mit einer Situation zu tun, die gut die Wendung »zwei Schritte vor, einen Schritt zurück« illustriert. Wir üben Druck aus, um zwei Schritte nach vorne zu gehen, danach drängt uns die Reaktion einen Schritt zurück, aber wir gehen beständig einen Schritt nach vorne. Der Neoliberalismus konnte das Problem nicht lösen. Er hat es reduziert, aber nur in begrenzter Art und Weise. Die Kapitalisten sind politisch nicht so stark, als daß sie die Einkommenssteuer gänzlich abschaffen, das Bildungswesen schleifen oder die ökologische Krise vollständig ignorieren könnten. Das ist absolut offensichtlich, wenn man die global ablaufenden Erscheinungen analysiert. Der Erfolg des Neoliberalismus war also begrenzt und kurzfristig.

Wenn man auf die gegenwärtigen Ereignisse in Ecuador, Bolivien oder selbst Mexiko schaut, wo neoliberale Reformen die vorhandenen sozialen Unterschiede vertieften sowie die demokratischen Institutionen des Staates zerrütteten: Muß man die Demokratie vor dem Neoliberalismus retten?

Vor allem gibt es keine Zweifel bezüglich dessen, was sich in Ecuador, Bolivien, Brasilien, Argentinien usw. abspielt. Das ist Widerstand gegenüber den Auswirkungen der neoliberalen Doktrin, die den Einwohnern dieser Länder aufgezwungen wurde, es ist eine Reaktion auf die ganze neoliberale Kampagne. Rettet das die Demokratie? Na ja, im gewissen Sinne ist das ein Ausdruck das Volksempfindens, das von der Mehrheit der Bürger dieser Länder geteilt wird und das sich nicht in den früheren politischen Kräfteverhältnissen widerspiegelte. Kann dies die Demokratie konstituieren? Nein. Bei dem derzeit global herrschenden Kräfteverhältnis ist eine Konstituierung wahrer Demokratie nicht möglich. Aber es ist ein gutes Zeichen, daß die Dinge sich in die richtige Richtung entwickeln.


Übersetzung: Tomasz Konicz (Junge Welt)

Mit der in diesem Gespräch diskutierten Thematik befaßt sich Wallersteins in diesem Sommer auf deutsch erschienenes (und schon vergriffenes) Buch aus dem Jahr 1998: Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts. Promedia Verlag, Wien, 120 Seiten.

In diesem Jahr erschien außerdem auf deutsch: Immanuel Wallerstein: Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus. Wagenbach Verlag, Berlin, 108 Seiten, 10,90 Euro.

Wir danken der polnischen Ausgabe der Zeitung Le Monde diplomatique, in der dieses Interview ursprünglich erschien, für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck. Das Gespräch wurde für jW gekürzt.
Orginal im Internet: monde-diplomatique.pl/

Michal Stachura | 27.10.07 22:00 | Permalink