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Was ist so schlimm daran?

von Kamil Majchrzak

MOTIV RACHE*Polens neues Lustrationsgesetz und der Fall des Holocaust-Überlebenden und Philosophen Zygmunt Bauman

Ein Damoklesschwert schwebt über Sejm-Abgeordneten, polnischen Politikern überhaupt, über Beamten und Richtern, den Chefs staatlicher Unternehmen, Journalisten sowie Pädagogen - und nennt sich Lustrationsgesetz. Danach müssen bis zum 15. Mai etwa 700.000 Polen schriftlich erklären, ob sie zwischen 1945 und 1989 für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet haben oder nicht. Angestoßen von der Kaczynski-Regierung hat eine Durchleuchtung von Biografien begonnen, die teilweise an eine Hexenjagd erinnert.

Hinter der Fassade eines demokratischen Staates kehrt die derzeitige polnische Regierung zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte zurück.

Das rechtskonservative Triumvirat der Kaczynski-Zwillinge und des Bildungsministers Roman Giertych von der Liga Polnischer Familien (LPR), das - nach eigener Wahrnehmung - das Solidarnosc-Erbe angetreten hat, ist gerade damit beschäftigt, die öffentliche Sphäre zu zerstören und all jene Quellen auszutrocknen, die eine freie Willensbildung ermöglichen. Diese Regierungsspitze verkörpert, was Hannah Arendt einst den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen moderner bürgerlicher Gesellschaft und totaler Herrschaft nannte.

Die in Polen tobende antikommunistische Hexenjagd wird auch nach Deutschland exportiert, wie die jüngsten Attacken auf den polnisch-jüdischen Philosophen Zygmunt Bauman erkennen lassen. Die Angriffe gegen ihn sind exemplarisch dafür, wie der öffentliche Raum als Ursprung eines politischen Handelns, das sich im Arendtschen Sinne gegen blinden Konformismus richtet, über Polen hinaus zu erodieren droht, weil viele Intellektuelle im Westen die antikommunistische Paranoia lediglich für polnische Folklore halten.

Wer sich weigert, muss gehen

Seit der Machtübernahme der Brüder Kaczynski steht nicht zufällig die Geschichtspolitik im Zentrum eines vehementen Kulturkampfes, sie soll die neuen Machthaber nicht nur legitimieren, sie soll auch die offene Gesellschaft als ein Symbol westlichen Sittenverfalls diskreditieren. Diesem Zweck dient die Verrechtlichung des Freund-Feind-Schemas, wie das momentan mit Hilfe des Lustrationsgesetzes geschieht. Geschichte soll darüber entscheiden, wer zum öffentlichen Leben noch Zugang hat - und wer nicht.

Dabei hat der Angriff von Bogdan Musial, eines in Deutschland lebenden Historikers, auf Zygmunt Bauman nichts mit seriöser Geschichtsaufarbeitung zu tun, wir werden stattdessen Zeuge des Versuchs, eine kapitalismuskritische Gegenöffentlichkeit zu delegitimieren und auszuschalten.

Es verwundert kaum, dass Krzysztof Czabanski, Intendant des Polnischen Rundfunks, unverblümt erklärt, er werde jeden Journalisten entlassen, der sich weigere, seine Vergangenheit in einer "Lustrationserklärung" offen zu legen. Gegen diese unterwürfige Loyalitätsbekundung gegenüber dem Diktat der Kaczynskis wehrt sich in ihrer aktuellen April-Ausgabe die gesamte Redaktion der polnischen Edition von Le Monde Diplomatique. In einer Erklärung, die neben einem kritischen Artikel des französischen Herausgebers Ignacio Ramonet zum gleichen Thema veröffentlicht wird, zieht sie mit Blick auf das Lustrationsgesetz eine Parallele zu den Repressionen autoritärer Regimes. Es wird an den berühmten Grundsatz von Gustav Radbruch erinnert, dass dort "wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, ein solches Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges‹ Recht ist, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur."

Das Lustrationsgesetz - es wurde Ende 2006 beschlossen - trat am 15. März in Kraft und legt fest, dass bis zum 15. Mai 2007 rund 700.000 Polen, die vor dem August 1972 geboren wurden, erklären müssen, ob sie in den Jahren 1945 bis 1989 Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen sind oder nicht. Während polnische Journalisten mit dem Widerstand gegen dieses Verdikt ein zehnjähriges Berufsverbot riskieren, das vom Lustrationsgesetz bei "Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht" angedroht wird, verhinderten in vorauseilendem Gehorsam die Berliner Kollegen der deutschen Ausgabe von Le Monde Diplomatique den Abdruck des kritischen Artikels von Ignacio Ramonet. Es stört sie, dass der Autor die Hexenjagd im heutigen Polen mit der Atmosphäre während der McCarthy-Ära in den USA nach dem II. Weltkrieg vergleicht. Historisch - so der Vorwurf - sei das ebenso unhaltbar, wie jede Gleichsetzung des polnischen mit dem litauischen Antisemitismus.

Es erstaunt, wenn deutsche Journalisten glauben, das Copyright für die Antisemitismus-Definition zu besitzen. Sicher ist es richtig, dass Polen nicht in den zweifelhaften Genuss kam, seine Nazi-Kollaborateure für eigene SS-Divisionen wie im Baltikum rekrutiert zu sehen. Um so mehr gibt es aber gegenwärtig in Polen rechtsnationalistische Kreise, denen daran gelegen ist, die von den Nazis auf polnischem Boden begangenen Verbrechen zu relativieren und latenten Antisemitismus als bäuerliche Volksaufstände gegen Bolschewiken umzudefinieren.

Der naive Ansicht, bei McCarthy ging es seinerzeit um Antikommunismus - in Polen gehe es derzeit lediglich um Stasiaufarbeitung -, scheint nicht nur, sondern ist ein Indiz dafür, dass die 90 Kilometer zwischen Berlin und der polnischen Westgrenze in intellektueller Hinsicht eine unüberwindliche Entfernung sein können, um politische Realitäten wahrzunehmen und das akademische Geschichtswissen zu aktualisieren. Darin spiegelt sich das Denken einer "Intelligenzija", die spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer offensichtlich an ein Ende der Geschichte glaubt und den Kapitalismus als nicht weiter zu hinterfragende Tatsache akzeptiert.

Diese paternalistische Zensurmaßnahme sollte wohl im Sinne der angeschlagenen deutsch-polnischen Verhältnisse gut gemeint sein. Doch der Bärendienst auf taz-Niveau, die sich affirmativ der Homnophobie als polnisches Ersatzthema zuwendet anstatt ihre Ursachen zu hinterfragen, ist in ihrer gesellschaftspolitischen Analyse erneut nicht über einen Kartoffelvergleich hinausgewachsen, mit welchem sie einst den polnischen Präsidenten verglichen hatte.


Gegen den "Patron der neuen Linken"

Der Historiker Bogdan Musial, der Ende der neunziger Jahre bei der Debatte um die Wehrmachtsausstellung wegen einiger Fotos, auf denen nicht Opfer der Wehrmacht, sondern des sowjetischen NKWD zu sehen waren, die Verbrechen der Wehrmacht relativieren wollte, hat nun in der FAZ vom 20. März über Zygmunt Bauman zu Gericht gesessen. Seine Beweise waren ausnahmslos der rechtsextremen Zeitschrift OZON entnommen, einer Publikation, die mit ihrem Titel auf die faschistoide Organisation OZN im Vorkriegspolen anspielt und mit Grzegorz Górny einen Chefredakteur hat, der auch die Zeitschrift Fronda als Sprachrohr katho-nationalistischer "Intellektueller" leitet. Die konservativen Revolutionäre aus dem Dunstkreis der Fronda machen aus ihrer Faszination für Ernst Jünger oder für die Eiserne Garde des mit Hitler verbündeten rumänischen Diktators Antonescu kein Hehl. Piotr Gontarczyk, Autor des OZON-Artikels, den Musial in der FAZ als einzige Quelle bemüht hat, ist nicht zufällig Historiker am Institut für Nationale Erinnerung (IPN), das heute in Polen eine ähnliche Rolle spielt wie einst das Sanctum Officium während der Inquisition zu Zeiten Torquemadas.

Allein diese Quellenlage hätte für Misstrauen sorgen müssen - Zygmunt Bauman, der bekanntlich den Holocaust nicht als Rückfall in die Barbarei definiert, sondern als ultimativen Versuch wertet, die Ambivalenz der Moderne zu verhindern, dient der Inquisition quasi als ein erstes Ziel beim Generalangriff auf die ohnehin marginalisierte linke Gegenöffentlichkeit in Polen.

Es kann insofern nicht überraschen, dass Musial in seinem denunziatorischen Artikel Bauman als jemanden beschreibt, der "gerne moralisiert", ein "Patron der neuen Linken" sei und "seine eigenen Taten nicht reflektiert". Doch hat der so Angegriffene weder seine früheren marxistischen Überzeugungen, noch eine zwei- bis dreijährige Tätigkeit für das Korps der Inneren Sicherheit (KBW) im Nachkriegspolen je verheimlicht. Seine dem Warschauer Ghetto entronnene Frau Janina hatte dies bereits vor einem Jahrzehnt in ihren Erinnerungen beschrieben. Das KBW kämpfte nach dem Krieg gegen bewaffnete Freischärler wie in einem Bürgerkrieg. Antikommunistische Widerstandsgruppen ermordeten bis in die fünfziger Jahre hinein Tausende Polen, darunter viele Juden, die aus den Konzentrationslagern oder der Emigration zurückgekehrt waren.

Zahlreiche polnische Kommentatoren vergleichen den Fall des Antifaschisten Bauman mit dem Skandal um den Neonazi Rafal Farfal, der trotz seiner Vergangenheit zum stellvertretenden Geschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Warschau aufstieg. Was sei so schlimm an Farfal - fragen sie - er sei doch nicht wie der "Jude Bauman" für den Mord an "polnischen Patrioten" verantwortlich. So wird Geschichte umgeschrieben und aus dem Kampf in der II. Polnischen Armee gegen Hitler die Kollaboration mit Stalin - aus einer Medaille für den im Kampf gegen den Faschismus bewiesenen Mut in der Schlacht bei Kolberg ein Orden für Dienste in der Staatssicherheit.

Wer die Nachkriegsgeschichte wenigstens auf Grundschul-Niveau beherrscht, der weiß, dass Ende der vierziger Jahre in Polen auf beiden Seiten geschossen wurde. Mögen die Kaczynski-Zwillinge Mördern wie dem berüchtigten Partisanen Józef Kuras "Ogien", der für "ein Polen ohne Juden und Kommunisten" kämpfte, heute Denkmäler setzen - seine Untaten nach 1945 werden damit nicht ungeschehen gemacht. Wer das nicht versteht, wird auch nicht begreifen, weshalb so viele Intellektuelle, besonders Holocaust-Überlebende wie Zygmunt Bauman, ein sozialistisches Nachkriegspolen als einzige Gewähr dafür sahen, dass Auschwitz nie wieder möglich wird.

Info:
Der Autor ist Redakteur der polnischen Edition von Le Monde Diplomatique und des ostdeutschen telegraph.

Gleichzeitig erschienen im Freitag # 17 vom 27.04.2007

Michal Stachura | 26.04.07 11:30 | Permalink