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Die Opfer der RAF

Bundespräsident Horst Köhler "könne 'die Gedanken und Gefühle gut nachvollziehen', die bei den Opfern der RAF durch die Strafaussetzung für RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt und durch das Gnadengesuch von Christian Klar ausgelöst worden seien." (SPIEGEL ONLINE: Köhler schließt schnelle Begnadigung von Klar aus)

Berlin (Reuters) - "30 Jahre nach dem so genannten Deutschen Herbst soll den Opfern der RAF bundesweit gedacht werden.
Justizministerin Brigitte Zypries kündigte eine Gedenkfeier der Bundesregierung an. "Die Vorbereitungen dazu laufen bereits seit dem vergangenen Jahr' sagte sie der "Bild"-Zeitung
"

Da kann man sich doch nur anschließen und die Forderung nach einer Entschuldigung bei den Angehörigen und eine völligen Aufklärung der Todesumstände der Opfer der RAF unterstüzen. Zur Erinnerung seien hier an dieser Stelle noch einmal ihre Namen veröffentlicht :

Petra Schelm, 15. Juli 1971, wird beim Durchbrechen einer Straßensperre erschossen
Georg von Rauch, 22. Dezember 1971, wird bei einer Fahndungsaktion in West-Berlin erschossen.
Thomas Weisbecker, 2. März 1972, wird von Beamten einer Sonderkommission des bayrischen Kriminalamtes in Augsburg erschossen.
Holger Meins, 9. November 1974, stirbt an den Folgen eines Hungerstreiks
Ulrich Wessel, Siegfried Hausner, 24. April 1975, bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm stirbt Ulrich Wessel bei einer Explosion, Siegfried Hausner erliegt 3 Wochen später seinen Verletzungen
Philip Staube, 9. Mai 1975, wird bei einer Autokontrolle in Köln von der Polizei erschossen
Ulrike Meinhof, 9. Mai 1976, wird erhängt in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim aufgefunden
Bernd Hausmann, 25. Mai 1976, stirbt bei einer Sicherheitskontrolle im Tel Aviver Flughafen nach einer Explosion
Wilfried Böse, Brigitte Kuhlmann, 4. Juli 1976, werden bei der Erstürmung eines entführten Flugzeuges in Athen erschossen.
Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, 18. Oktober 1977, wurden tot in ihren Zellen aufgefunden
Ingrid Schubert, 12. November 1977, wird tot in ihrer Zelle aufgefunden
Willy Peter Stoll, 6. September 1978, wurde bei einer Personenkontrolle in Düsseldorf erschossen
Michael Knoll, 7. Oktober1978, wurde bei einem Schusswechsel mit der Polizei schwer verletzt und erliegt zwei Wochen später seinen Verletzungen
Elisabeth von Dyck, 4. Mai 1979, wird beim Betreten einer Wohnung von der Polizei erschossen
Wolfgang Beer, Juliane Plambeck, 15. Juli 1980, kommen auf der Flucht bei einem Autounfall ums Leben
Sigurd Debus, 16. April 1981, stirbt an den Folgen eines Hungerstreiks
Johannes Thimme, 20. Januar 1985, stirbt bei einem Anschlagsversuch auf das Rechenzentrum Stuttgart-Vaihingen
Wolfgang Grams, 24. Juni 1993, stirbt bei einer Festnahmeaktion in Bad Kleinen
Horst-Ludwig Meyer, 15. September 1999, wird bei einer versuchten Festnahme in Wien erschossen

Und zur weiterführenden Lektüre noch zwei Texte aus der jungen Welt zum Thema:

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03.03.2007 / Wochenendbeilage / Seite 1
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»Die haben zuerst geschossen«
Gespräch mit Till Meyer. Über die Kampagne gegen die RAF-Gefangenen, die Entstehung der linksradikalen Strömung in Westdeutschland, die Repression und das Verhältnis von neuer und alter Linker

Rüdiger Göbel und Arnold Schölzel

Till Meyer (geb. 1944) arbeitet als Journalist in Berlin. Er war Mitglied der Bewegung 2. Juni und saß insgesamt 13 Jahre in Haft. 1996 erschien seine Autobiographie »Staatsfeind«
Ende vergangenen Jahres begannen die Mainstream-Medien eine Kampagne gegen die Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt und gegen einen möglichen Gnadenakt des Bundespräsidenten für Christian Klar. Zeitweise nahm das hysterische Formen an. Aus dem Getöse ist nun eine erste staatliche Maßnahme geworden. Am Mittwoch stoppte Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll (FDP) den Prozeß der Vorbereitung auf die Haftentlassung für Christian Klar. Anlaß war für ihn der Text Christian Klars, der am 13. Januar auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin vorgetragen und in der jungen Welt am 15. und 31. Januar veröffentlicht wurde. Wie erklären Sie sich diese Eskalation? Bekommt da jemand den Hals nicht voll?

Rational ist das schwer zu erklären. Christian Klar scheint so etwas wie das letzte Faustpfand zu sein. Er wird offenbar für die gesamte Politik des bewaffneten Kampfes der RAF in den 70er und 80er Jahren haftbar gemacht. Man kann wohl nicht verkraften, daß es mal Leute gab, die gesagt haben, es könnte auch anders gehen, die sich getraut haben, Freiheit und Leben zu riskieren, um eine bessere, eine humane, eine gerechtere Welt zu erkämpfen. Auch wenn man das aus heutiger Sicht etwas anders bewerten muß. Die maßgebenden Leute in diesem Land sind nicht in der Lage, einen Schlußstrich zu ziehen, obwohl diese Geschichte längst erledigt und ad acta gelegt ist. Es gibt keine politische und rechtliche Grundlage, die Leute weiter in Haft zu halten.
Aber genau deswegen entsteht ja die Frage: Was soll der Lärm? Die Rechtslage ist eindeutig – vom Grundgesetz bis zu zur Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht.

Ich kann mir das nur so erklären: Es gibt einflußreiche Leute, die nicht bereit sind, die gängigen humanen Standards einzuhalten. Es geht hier schlicht um Rache der herrschenden Klasse, um Vergeltung. Sie wollen, daß die Leute zu Kreuze kriechen und womöglich noch, daß Christian Klar mit einem Button herumläuft, auf dem das Konterfei von Herrn Beckstein zu sehen ist. Das allerdings wird nicht passieren.

Daß heute bereits eine Kapitalismuskritik mit Terrorismus gleichgesetzt wird, ist nicht nur ungeheuerlich, sondern sagt etwas über den verluderten Zustand der politischen Klasse hierzulande aus.
Würden Sie von politischer und von Gesinnungsjustiz sprechen?

Das war es von Anfang an. Von der ersten Minute der Inhaftierung der Leute aus der RAF oder anderer bewaffneter Gruppen. Es gab Sondergesetze en masse. Noch nie hatten sich Politik und Justiz derart schnell bemüht, neue Gesetze zu erlassen, um dieser besonderen Tätergruppierung polizeilich und politisch Herr zu werden. Das Hauptaugenmerk lag immer darauf, den politischen Charakter dieser Gesetze zu kaschieren und die Mitglieder der RAF als gewöhnliche Kriminelle hinzustellen. Das wurde aber nicht nur durch diese Gesetze und durch den Umgang mit den Gefangenen ad absurdum geführt.

Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar sitzen fast ein Vierteljahrhundert in Haft. Wer noch keine Zelle von innen gesehen hat, kann sich überhaupt nicht vorstellen, was das bedeutet. Hinzu kommt: Sie saßen ja nicht irgendwo weggesperrt, sie hatten weit über zwei Drittel ihrer Haftzeit schwerste Bedingungen. Heute gehört es zum guten Ton, insbesondere bei 68er-Renegaten, zu behaupten, daß es keine Isolationshaft gegeben habe. Aber es gab sie sehr wohl. Mit Radio, Zeitung oder Büchern kann man bekanntlich nicht sprechen. Wenn man den Häftlingen entzieht, was den Menschen ausmacht, Kommunikation und Kontakt, dann ist das Isolation. Und hat man erst einmal die Aufmerksamkeit des Justizapparats im negativen Sinn auf sich gezogen, dann kann das auch in Deutschland sehr, sehr unangenehm werden. Auch das haben sie hinter sich.
Auf das Argument, kein einziger Nazikriegsverbrecher habe solange gesessen wie die RAF-Gefangenen, antwortete die FAZ mit der Bemerkung, man solle nicht vergessen, daß ja auch einige Nazi-Kriegsverbrecher gehenkt worden seien.

Aber nicht von der deutschen Justiz. Ich habe seinerzeit für diese Zeitung mit dem letzten Auschwitz-Ankläger, Oberstaatsanwalt Klein in Frankfurt am Main, ein Interview geführt. Dieser Mann, der auch die Mengele-Fahndung geleitet hatte, sagte in dem Interview, daß er zutiefst bedauere, mit welchen lächerlichen Strafen diese überführten Massenmörder davongekommen sind. Sie waren alle überführt, z.T. wurde ihnen 30facher Mord nachgewiesen, und sie wurden zu lächerlichen Strafen, das waren seine Worte, zu drei oder fünf Jahren Haft verurteilt. So war es immer. In Deutschland hat sich niemand von diesen Leuten jemals entschuldigt oder hat gesagt: Es tut mir leid, daß ich ein Nazi-Kriegsverbrecher und Massenmörder war. Sie kamen nach kurzen Haftzeiten raus. Für Linke galt in diesem Land immer schon ein anderes Maß.
Die Presse, aber auch bestimmte Teile der Politik verlangen nun eine Entschuldigung, ein Wort der Reue. Sie verbinden das mit den Verfahren, die anstehen, der Haftentlassung bzw. dem Gnadenakt.

Das gibt es in der deutschen Rechtsprechung nicht. Die Haft hat ausschließlich dem Zweck der Resozialisierung zu dienen, mit dem Ziel, daß der Täter oder die Täterin nach der Entlassung ein Leben in Straffreiheit führen. Eine entsprechende Prognose haben die Gerichte abzugeben. Und das haben sie ja auch getan: positiv. Ein Reuebekenntnis oder eine Tataufklärung ist im deutschen Strafrecht nicht vorgesehen. Jeder Angeklagte, auch jeder Verurteilte, hat selbstverständlich das Recht zu schweigen. Begriffe wie Reue, Sühne, Aufklärung dürfen nicht zum Kriterium für eine vorzeitige bzw. eine Haftentlassung überhaupt gemacht werden. Ansonsten könnten wir gleich zum Recht nach Gutsherrenart zurückkehren, zum Feudalismus. Dann läßt der Gutsherr frei, wen und wann es ihm paßt.
Von den Toten auf seiten der Studentenbewegung – angefangen mit Benno Ohnesorg – und natürlich auch der RAF ist in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rede.

Natürlich geraten die in Vergessenheit. Daß es Tote auf beiden Seiten gab, ist einfach eine Tatsache. Daß nicht wenige in sogenannter Putativ-Notwehr erschossen wurden wie Elisabeth van Dyck oder der Taxifahrer Endrian, wird unterschlagen.

Vor allem aber muß man klar sagen: Die Zeiten damals waren andere. Sie waren von dem verbrecherischen Krieg der Amerikaner in Vietnam und zugleich von einer Aufbruchsituation geprägt: Raus aus der vermufften Adenauer-Ära, mehr Demokratie wagen, wie Willy Brandt sagte. Von diesem Aufbruch haben Leute wie Ex-Außenminister Fischer, der übrigens gar nicht so weit weg von den Kreisen des bewaffneten Kampfes war, profitiert. Ein Teil derjenigen, die damals den gesellschaftlichen Aufbruch mitgetragen haben, hat sich radikalisiert, wie immer in der Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich, das hat es immer gegeben. Daß wir auch scheitern könnten, das wollten wir damals nicht glauben. Heute ist längst klar, daß diese Kampfmethode gescheitert ist und viele Opfer gefordert hat. Und darüber gibt es ein tiefes Bedauern.

Es war ein politischer Versuch, den man als solchen bewerten muß. Eine solche Feststellung, die nicht erst seit heute in der Diskussion ist, geht besonders an die Adresse der Renegaten von Peter Schneider bis Wolfgang Kraushaar und wie sie alle heißen. Sie plustern sich mit ein paar Einblicken auf, die sie in diese Sphäre hatten und schreiben heute dicke Bücher, die allesamt nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind.

Man kann diese Anfänge nicht aus der damaligen gesellschaftlichen Situation lösen. In Vietnam vollzog sich ein gigantisches Kriegsverbrechen. Das wird heute selbst in den USA so gesehen. Ich weiß noch aus den Fernsehbildern jener Zeit, wie die B52 der USA ihre Bomben wie Hagelkörner auf die Zivilbevölkerung abwarfen. Das war einfach entsetzlich, ein Schock. Und man sollte nicht vergessen: Anfang der 70er Jahre war der Zweite Weltkrieg noch nicht so lange her. Wir alle, die wir damals angefangen haben, hatten noch Nachkriegserinnerungen und sagten: Das wollen wir nie wieder, da machen wir nicht mit. Es gibt nur eins, wir wehren uns. Der Ansatz war zutiefst human.
In den Jahren 1967/68 gab es nicht nur den Vietnamkrieg, sondern auch den NATO-Putsch in Griechenland, den Mord an Benno Ohnesorg mit anschließenden Feiern in manchen Kneipen und Offizierskasinos. Welche Rolle spielte in dieser Situation die DDR? Kraushaar hat gerade wieder geschrieben, Christian Klar habe seinen »letzten Schliff« als Terrorist von der »Stasi« erhalten.

Völliger Unfug. Christian Klar brauchtes gewiß nicht so etwas wie »letzten Schliff«. Die »teuflische Stasi-RAF-Connection« war juristisch ein Flop. Fakt ist etwas ganz anderes: Mit der Exilgewährung für zehn ehemaligen RAF-Leute in der DDR hat die DDR auch die BRD vor zehn potentiellem RAF-Akteuren geschützt. So kann man das natürlich auch sehen. Aber genau das wollen diese Leute nicht. Denen geht es um ganz anderes: Der Kapitalismus ist die beste aller Welten, die Geschichte ist zu Ende. Lieber Gott, mach mich blind, daß ich alles prima find.

Damals spielte die DDR für uns keine große Rolle. Wir sind zwar Anfang der 70er Jahre über den Bahnhof Berlin-Friedrichstraße ins westliche Ausland gereist, um westdeutsche Grenzkontrollen zu umgehen. Wir meinten, wenn die DDR uns kriegt, läßt sie uns vielleicht ziehen. So war es dann auch in verschiedenen Fällen. Die haben gesagt, wir machen uns nicht zum Erfüllungsgehilfen des Westens. Wenn ihr hier nichts macht, könnt ihr durchfahren. Bei uns habt ihr nichts verbrochen. Ich bin selbst zweimal entdeckt worden und wurde einfach laufengelassen. Aber es gab zunächst keine besondere politische Debatte über den zweiten deutschen Staat. Man war beruhigt, daß es den gab. Aber daß man sich politisch da hätte anlehnen wollen, dafür waren in der neuen Linken zu viele maoistische und auch anarchistische Elemente. Daß sich das später geändert hat, ist bekannt.
Die Anfänge sind ein Produkt der gesellschaftlichen Verfassung der Bundesrepublik. Ist das der entscheidende Gesichtspunkt?

Ja. Wir hatten 1968 die Notstandsgesetze. In Griechenland, Portugal und Spanien faschistische Diktaturen, den Vietnamkrieg. Auf der anderen Seite die Befreiungsbewegungen rund um den Globus. Und Che Guevaras Aufforderung:Schafft zwei, drei, viele Vietnams. Sollten wir als engagierte Linke feinsinnige Analysen schreiben und die anderen Genossen den Kopf hinhalten lassen – in Brasilien, Uruguay und wo überall der bewaffnete Kampf rund um den Globus geführt wurde, in Angola, Moçambique, Guinea, Südafrika, Namibia, und, und? Das war die Herausforderung für uns, und wir haben nach Antworten gesucht. Die Generation der Naziväter hat zu den Verbrechen des Faschismus geschwiegen und wurde politisch gedeckt. Alte Nazis saßen wieder in einflußreichen Positionen, und in einigen Landesparlamenten war die NPD mit 12 Prozent Stimmanteil vertreten. Als dann Beate Klarsfeld dem früheren NSDAP-Mann und damaligen Bundeskanzler Kiesinger eine Ohrfeige gegeben hatte, kam etwas ins Rollen. Die Ohrfeige war symbolisch für die Zeit.

Mir kommt es schon darauf an zu sagen: Der militante Widerstand entstand aus der Mitte der Gesellschaft der Bundesrepublik. Da mußte niemand von draußen Einfluß drauf nehmen. Die DDR und die Existenz der sozialistischen Staaten hat vielleicht einzelne motiviert, aber irgendwelche Rückendeckung von dort gab es zu dieser Zeit nicht.
Welche Rolle spielte die brutale Reaktion des bundesdeutschen Staates auf einen zunächst relativ harmlosen Protest?

Die Demonstranten am 2. Juni 1967 in West-Berlin haben gegen ein Folterregime protestiert, gegen den Schah von Persien. Sie nahmen demokratische Rechte wahr und demonstrierten friedlich. Darauf hat die Polizei mit äußerster Brutalität reagiert: Knüppel frei und drauf. So haben sie sich benommen. Dabei hat der Zivilpolizist Karl-Heinz Kurras dem Studenten Benno Ohnesorg von hinten in den Kopf geschossen. Damit war klar: Die haben zuerst geschossen. Diese tödlichen Schüsse lösten in der damaligen Massenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition (APO), einen Schock aus. Und natürlich brachte das auch die Frage nach dem adäquaten Widerstand auf die Tagesordnung. Die Gewaltfrage wurde neu diskutiert, und das nicht nur in der Bundesrepublik, sondern zeitgleich in Westeuropa.
Zurück zur Ausgangsfrage. Die bundesdeutsche Politik sitzt fest im Sattel. Die Bundesrepublik hat die DDR beseitigt, hat allein dort Millionen Menschen abgewickelt und in die Arbeitslosigkeit geschickt, ohne daß es zum Aufstand kam. Die Linke ist zersplittert. Warum dieser Bohai um den Text von Christian Klar, von dem der Ex-FDP-Minister Gerhard Baum sagt, jeder radikale ATTAC-Anhänger sage so etwas auch?

Der Text ist völlig harmlos. Eine Kapitalismuskritik, mehr nicht. Wer darin eine Aufforderung zur Fortsetzung des bewaffneten Kampfes sieht, ist entweder dumm oder bösartig. Warum machen sie solch ein Aufhebens? Ich kann die Frage nicht ohne weiteres beantworten. Im übrigen: Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar wurden in Indizienprozessen verurteilt. Es gibt kein Geständnis, es gibt auch keine klare Täterzuordnung, sie sitzen seit über 24 Jahren in Haft. Die Politiker, die Millionen Menschen auf Hartz IV setzen, die dafür sorgen, daß ein Großteil der Bevölkerung verarmt, die ihre Soldateska samt Flugzeugen wieder in alle Welt schicken, diese Politiker agieren nun auch noch dagegen, daß hierzulande die gängigen humanen Standards eingehalten werden. Denn gesühnt, wenn überhaupt Sühne sein soll, ist mit einem Vierteljahrhundert genug.
Spielt nicht eine Rolle, daß es im Unterschied zu anderen Ländern in der Bundesrepublik in den letzten 15 Jahren wenig Solidarität mit den RAF-Gefangenen gab?

Das könnte ein Aspekt sein. Zugleich wissen wir doch, die Linke ist schwach. Sie ist jetzt wieder ein bißchen im Kommen, war aber in den 80er und 90er Jahren völlig desavouiert. Vor 35 Jahren fanden die Fischer, Kraushaar, Peter Schneider und all die anderen Ulrike Meinhof toll. Heute leugnen sie das. Das Projekt der Grünen hat diesem Teil der Linken das Genick gebrochen. Als die losmarschierten, sich links kostümierten und rechts abbogen, war es mit der Solidarität vorbei. Wer noch übrigblieb, wurde als Spinner oder Stalinist bezeichnet, dann war das auch erledigt.
In den 80er Jahren sind noch Leute in den Knast gegangen, weil sie z. B. Veranstaltungen anmeldeten, um über die Haftbedingungen der RAF zu diskutieren. Warum war das dann vorbei?

Das hat viele Gründe. Einer war sicher die massive Repression. Man darf doch nicht vergessen: Wir Illegale konnten uns in den 70er Jahren wie die Fische im Wasser bewegen. Unsere Aktionen fanden zum Teil unter dem Beifall jener Leute statt, die heute an politisch verantwortlichen Stellen sitzen. Und das war natürlich eine latente Bedrohung für diesen Staat. Bekannt ist, daß die BRD seinerzeit allein 65 Millionen D-Mark nur für Propaganda ausgegeben hat, um die sogenannten Sympathisanten von den Untergrundgruppen abzuspalten. Die damalige Bundesrepublik hatte ein echtes Problem. Bonn war eine Polizeifestung. Das ist vorbei.
Wie war das Verhältnis zum real existierenden Sozialismus und konkret zur DKP?

Die Kritik an den Staaten des Warschauer Vertrages war virulent. Wir unterstellten den RGW-Staaten den Verzicht auf die Weltrevolution. Zugleich mußten wir aber auch konstatieren, daß es ohne die Unterstützung der sozialistischen Staaten keine Befreiung der Länder der »Dritten Welt« von imperialistischer und kolonialer Herrschaft geben konnte. Insoweit war die Position zwiespältig und nicht durchanalysiert, verkürzt gesagt. Das ist in vielen Texten dieser Gruppen auch nachzulesen.

Die neue Linke hatte insgesamt große Probleme mit der alten Linken, also der DKP. Die DKP warf uns seinerzeit Abenteurertum vor, und das sahen wir selbstverständlich ganz anders. Aus heutiger Sicht muß man sagen, sie hatten nicht ganz unrecht. Ich sehe es heute als großen Fehler an, daß wir keine Verbindung zu den alten Antifaschisten gesucht haben. Da hieß es: Das sind Legalisten, die wollen alles nur auf gesetzlichem Weg. Wir waren halt Radikale. Hätten wir uns schlauer gemacht, hätten uns einige vielleicht gesagt: Das haben wir alles schon hinter uns. Bis auf wenige Ausnahmen gab es aber keine Berührungspunkte, und so hat sich über die Jahrzehnte auch keine gegenseitige Solidarität entwickelt.

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24.02.2007 / Thema / Seite 10
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Lust auf Freiheit
Unsere Geschichte als Klassenkampf von unten verteidigen

Inge Viett

Was müssen wir uns eigentlich noch von dem medialen Mob der Springer-, Bertelsmann-, Spiegel- und TV-Mogule gefallen lassen? Daß von BZ und anderen aufgewiegelte Durchgeknallte (wie damals Josef Bachmann, der Attentäter von Rudi Dutschke) einer Aufforderung zu Lynchmord mit präziser Ort- und Zeitangabe nachkommen? Diese schreibenden Hofschranzen des Kapitalismus; mit der Macht der Konzerne im Rücken betreiben sie vereint die Diabolisierung von Widerstand, von Verhetzung durch primitivste Diffamierung der letzten Gefangenen aus der RAF. Das ist nicht nur feige und bösartig, es ist die erprobte Jauche, mit der die Köpfe der Massen im Faschismus, davor und danach gedüngt wurden. Die Saat ist bekannt. Auch die gegenwärtige: Rassismus, Kriegseinsätze, Folter, Lager, Geheimgefängnisse usw.

Auch wenn wir uns hüten müssen, die veröffentlichte Meinung für die Meinung der Menschen zu halten, stoßen wir doch selbst im linken Milieu immer stärker auf die Wirkungen ihrer Denunziationskampagnen. Die herrschende Kultur- und Medienmaschinerie baut auf das Unwissen und Halbwissen der Jungen.

Mit der Komplizenschaft der alten Intellektuellengarde, die zu ihr übergelaufen ist, zermahlt sie die kurze, aber heftige 68er Geschichte und die Akteure des revolutionären Aufbruchs und Ausbruchs aus der deutschen nachfaschistischen und kapitalistischen Kontinuität. Ein schmutziger Brei aus plumper Verteufelung (Bild-Zeitung), herrschaftsdummer Psychologisierung (Kraushaar/Reemtsma) (1), unsäglicher Verlogenheit, Heuchelei und triefender Dummheit rinnt durch die bürgerlichen Medien.

Die deutsche Elite und all ihre medialen Wasserträger haben kein Problem mit ihrer faschistischen Geschichte, deren Akteuren, deren Ungeheuerlichkeiten, deren Millionen Toten. Sie haben kein Problem mit den heutigen Kriegen, die für ihren Reichtum und für ihre Macht die Welt und die Menschen verwüsten. Sie haben kein Problem damit, daß weiterhin Millionen leiden, hungern und sterben, damit ihre Macht, ihr Reichtum erhalten bleibt. Sie kennen keine Reue, sondern nur Wiederholungen, sie kennen keine Entschuldigungen, nur Rechtfertigungen für ihre ehemaligen und jetzigen Verbrechen oder deren Verheimlichung; sie verunglimpfen die Opfer und ehren die Täter, benennen öffentliche und nichtöffentliche Orte nach ihnen. Alles kein Problem.

Aber sie haben ein ungeheuerliches Problem damit, daß es vor vierzig Jahren eine kleine Schar von Menschen gab, die entschlossen den Kampf gegen sie und ihr kapitalistisches Machtsystem aufgenommen hatten. Die letzten politischen Gefangenen aus diesem Kampf haben ihre juristische Strafe abgesessen, und die Medien feuern den deutschen »Kopfab«-Mob an, die Gefangenen mit »ihrem gesunden deutschen Volksempfinden« draußen zu empfangen. – No pasaran!
Symbole zurückgewinnen
Es wird immer schwieriger, die Geschichte des antifaschistischen Widerstands und unsere nachfolgende Widerstandsgeschichte der herrschenden Denunzierung und dem Verrat zu entreißen. Und es wird auch immer schwieriger, die grundsätzlich moralische Notwendigkeit von Rebellion zu behaupten – als kollektiver Akt der Menschenwürde gegen die Unterwerfung unter eine unwürdige kapitalistische Gesellschafts- und Menschheitsentwicklung. Schwierig nicht deshalb, weil uns die Erinnerung abhanden kommt, sondern weil die Unterwerfung bereits so komplex, so daseinsförmig ist, so innerlich und selbstverständlich, daß eine unbändige Rebel­lion Befremden, Nichtbegreifen oder bestenfalls nüchternes Interesse hervorruft, wie ein Gegenstand, der untersucht und verwertet gehört, wie jedes andere Ding auch.

Unzählige junge Leute haben Examen und Doktorarbeiten über den bewaffneten Widerstand geschrieben, Filme und Kunst darüber gemacht, oft mit Sympathie, aber ohne eine Spur der eigenen Auflehnung, ohne eine Spur von Lust und Ahnung auf Freiheit jenseits des kapitalistischen Seins.

Unsere Begriffe und Symbole, für uns leidenschaftliche Antizipation eines anderen Lebensentwurfs, angefüllt mit geschichtlicher Inspira­tion, bezogen auf die historische Unbeugsamkeit der Klassenkämpfe auf der ganzen Welt, waren unsere verbalen Waffen, die den Gegner kennzeichneten und den Verbündeten Solidarität und Gemeinsamkeit signalisierten. Sie stehen heute im Dienst der Herrschenden. Ihre Hüllen baumeln am ideologischen Kanthaken der impe­rialen Räuber und ihrer Medienhorden, ihrer Hofhistoriker und Systemexperten. Unsere Begriffe und Symbole werden mit Assoziationsketten gefüllt, die aus der Waren- und Kriegswelt stammen – aus dem Reich der Zombies.

Geht alles in der Gehirnwäsche verloren? Müssen wir neue Begriffe finden, um Freiheit wieder fühlbar zu machen? Ich weiß noch keinen, der nicht schon eingefangen ist. Aber Revolution heißt für mich noch immer: Umsturz aller Verhältnisse, die aus dem Menschen ein geknechtetes, unterworfenes Wesen machen, was immer die Knechtschaft für ein Gesicht hat: Armut, Ausbeutung, ökonomistische Lebenszurichtung, Terror, Faschismus oder Krieg.

Revolutionäre Politik heißt für mich noch immer: eine Praxis machen, die dieses elendige System grundsätzlich verneint, ihm grundsätzlich jeden moralischen Impetus abspricht, die sich grundsätzlich auf die Seite derer stellt, die von diesem System niedergehalten, gequält, verwertet werden, und die sich dagegen verweigern, auflehnen, es bekämpfen. Revolution ist nicht 1989, ist nicht orange, hat nichts, gar nichts zu tun mit den Gefechten um Anschluß an die imperialistischen Machthaber. Solidarität, Kollektivität, Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit für alle Menschen sind immer noch Sinn und Ziel revolutionärer Politik. Der Kapitalismus ist die Antithese zu all dem.
Wieso nur wir?
1970 war für uns der politisch/militärische Angriff der angemessene Ausdruck für unseren Widerstand gegen den Kapitalismus. Das war für uns eine natürliche Sache, denn die weltweite Dynamik der Klassenkämpfe schien einen Sprung an die Kehle des Imperialismus zu machen. Unzweifelhaft hatte die revolutionäre Gewalt der antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen den Imperialismus erschüttert und teilweise zurückgedrängt. Revolutionäre Gewalt hatte – zu Recht – eine moralische, befreiende Ausstrahlung. Warum sollten wir nicht versuchen, aus der Revolte, die in den sechziger/siebziger Jahren doch eine ganz schöne Masse in den kapitalistischen Staaten ergriffen hatte, einen grundsätzlichen Angriff auf das System werden zu lassen? Warum sollten wir nicht die ­Chance wahrnehmen? Revolten in Deutschland sind seltene Lichtschächte im autoritären Geschichts­tunnel, und sie wurden stets schnell wieder zugeschüttet. Auch wir hatten keine Chance, aber das mußten wir erst rauskriegen.

Die heutigen Fragen: Wieso habt ihr zu den Waffen gegriffen? Was und wer hat euch legitimiert? etc., möchte ich immer häufiger mit der Gegenfrage beantworten: Wieso haben nur wir – ein paar Hände voll – zu den Waffen gegriffen? Wieso sind Zigtausende, die auf dem Weg waren, zurückgefallen,

– obwohl sie begriffen hatten, in welch verbrecherischem Gesellschaftssystem ihr Leben verdingt wird, mit welchen tödlichen Methoden es sich erhält und ausbreitet,

– obwohl auch sie dieses schwache Moment, diese Krise, in der Geschichte des Kapitalismus erkannt hatten, seine momentane Defensive …

– obwohl – und das ist der entscheidende Unterschied zu heute – die noch existenten Alternativen zum Kapitalismus eine gewisse ideologische und materielle Rückendeckung gaben. Es gab philosophische Horizonte und Häfen für unsere Anstrengungen.

Gewiß, auch mit den Zigtausenden hätten wir die Schlacht nicht gewinnen können, aber den »Geistesheroen der Konterrevolution«, wie Lutz Schulenburg so schön sagt, wäre es bedeutend schwerer geworden, den bewaffneten Widerstand als politische Verirrung und persönliche Verwirrung einiger »Terroristen« aus seinem politischen, sozialen und geschichtlichen Bezug zu lösen.
Wem fühlten wir uns verbunden?
Im Großen allen, die sich auf jede Weise gegen die Herrschaft der Sklavenhalter, der Reichen und ihrer politischen Klasse, ihrer Bürokraten, ihrer Bullen, ihrer imperialistischen Gelüste zur Wehr setzten.

Klassenmäßig, ideologisch eher dem Subproletariat und der Subkultur. Die aus dem Verwertungskreislauf geschleuderten oder Ausgestiegenen, die in Heimen und Knästen Kasernierten, die Überflüssigen, die Prekarisierten – wie sie heute bezeichnet werden. Einige von uns hatten sich in sozialen Projekten auf diesem Gebiet politisiert; Heimarbeit, Gefangenenarbeit etc. Aber wir bezogen uns durchaus auch auf das Proletariat, seine klassenkämpferische Geschichte, und wir hielten es für möglich, sie der systemintegrierten Gewerkschaftspolitik zu entreißen. Ja, wir hatten große Träume und leider keine Strategie.

Wir waren »massenfreundlich« trotz des schmählichen Verrats der Arbeiterklasse an der Menschlichkeit während des Faschismus. »Massenfreundlich« hieß für uns »arbeiterfreundlich«, und das Versagen der Arbeiterklasse, das Überlaufen zur Unmenschlichkeit im Faschismus haben wir als Versagen der Politik der KPD identifiziert: ihre hierarchische Führung, also mangelnde emanzipative Strukturen, legalistisches Bewußtsein, Abhängigkeit von stalinistischer Politik, Furcht vor dem bedingungslosen Kampf usw. Wir haben wenig, zu wenig differenziert. Als wären die Arbeiter nicht genauso von faschistischen und kapitalistischen Werten deformiert gewesen wie die Mehrheit der übrigen Bevölkerung. Aber die Arbeiter waren einfach die Guten, aufgrund ihrer potentiellen Gegenmacht. Soweit waren wir Marxisten.

Den Intellektuellen – auch den linken – sind wir mit proletarischem Mißtrauen begegnet. Ihre Anfälligkeit für Verrat in schwierigen Phasen des revolutionären Kampfes ist eine historische Tatsache und exemplarisch auch in unserer Zeit verlaufen. Den wenigen Intellektuellen, die geistige Partisanen geblieben sind, sei Abbitte geleistet.

Aus unserer Bausch-und-Bogen-Verachtung hat sich ein ideologischer Proletarierkult entwickelt, über den wir zwar selbst gelacht haben, der sich aber doch festgesetzt hat. Was nicht heißt, in der Bewegung 2. Juni wären nur Genossinnen und Genossen aus dem proletarischen Milieu organisiert gewesen. In unserer revolutionären Praxis als Stadtguerilla waren die Klassenhierarchie und die Geschlechterhierarchie überwunden. Im übrigen gehörte zu unserem Anspruch an den »neuen Menschen« die Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit, was für uns konkret bedeutete, uns das nötige Maß an Theorie und Abstraktionsvermögen zu erarbeiten.

Unser ganz konkretes politisches Umfeld war die damalige undogmatische Berliner Linke, die nach dem Auseinanderfallen der APO den Weg der Partei- und K-Gruppengründungen nicht mitgehen wollte. Die, basisdemokratisch organisiert, sozial-politische Stadtteilarbeit machte und der Unterstützung des illegalen, bewaffneten Kampfes aufgeschlossen war. Wir verstanden uns als bewaffneter Arm der legal agierenden, sich noch als Bewegung begreifenden undogmatischen Linken.

Unser Konzept der fließenden Verbindung legaler und illegaler Zellen hat nur eine kurze Zeit wirklich fruchtbar funktioniert. Das sichtbare Beispiel dafür war die Gefangenenbefreiung durch die Entführung von Peter Lorenz (2).
Wieder beginnen
Die Grenzen einer politischen und logistischen Basis in einer sich mehr und mehr zersplitternden linken Bewegung, in einer eingeschlossenen Stadt, waren schnell erreicht. Wir waren dem perfektionierten Fahndungsdruck nicht mehr gewachsen, machten Fehler. Die gegnerische Durchleuchtung und Durchsetzung der politischen Szene grub uns das Wasser ab. Die Sympathie für uns war zwar immer noch da, aber sie materialisierte sich nicht mehr ausreichend. Wir hatten keine politische Organisation aufgebaut, die in der Legalität eine revolutionäre Strategie propagierte und die illegale Organisation politisch unterstützte. Das war ein fundamentaler Mangel. Wir landeten nahezu alle im Knast. Einige konnten wieder entkommen.

Was dann an bewaffneten Aktionen folgte, war der Versuch, die wenigen Kräfte, derer wir uns sicher waren – und das waren die eigenen –, gegen die imperialistische Machtmaschine in Stellung zu bringen. Das war der Punkt, an dem unser Handeln desperat und hoffnungslos wurde. So hoffnungslos wie die Politik der legalen Linken, deren revolutionäre Träume ebenfalls im tiefen Rückschwung waren. Rückwärtsblickend frage ich mich, ob und wann wir den Rückzug hätten antreten müssen, und ob ein Rückzug strategische Chancen hätte beinhalten können. Für die illegalisierten Kämpferinnen und Kämpfer wäre der Rückzug kaum eine annehmbare Option gewesen, weil sie im legalen Raum der BRD nur die Perspektive von Knast oder Verrat gehabt hätten oder das Exil. Eine Linke, die sie als politische Akteure hätte aufnehmen und absichern können, gab es nicht.

Aber auch, wenn wir sagen, in einer politischen Entscheidung, die aus gesamtprozessualer Verantwortung getroffen werden muß, kann es nicht um die persönlichen Optionen der Akteure gehen, sondern um die Notwendigkeit, neue Ansätze für revolutionäre Politik zu finden, wäre dies realistisch gewesen? Nein.

Ein Vierteljahrhundert erfolgreiche Weiterentwicklung imperialistischer Unterdrückungs- und Herrschaftsformen, Krieg, Eroberung, Terror, Folter, Raub, Überwachung, Zerschlagung so­zialer Errungenschaften, die Zerstückelung, Desorientierung und Pazifizierung der Linken durch eine gigantische Manipulationsmaschinerie, die wir einmal angetreten sind zu zerschlagen, die jetzt betrieben wird von den Aufgesogenen, den ehemaligen Aufsässigen, den Überläufern, die unsere Begriffe und Symbole mit hineingenommen haben und sie jetzt für sich arbeiten lassen, all dies läßt den Schluß zu, daß dem Guerillakampf in der BRD und in allen imperialistischen Staaten verdammt mehr Erfahrung, Klugheit, Ausdauer und Unterstützung zu wünschen gewesen wäre.

Jetzt hat sich das irrationale Monster entwickelt, und wir beginnen – vor Schwäche noch taumelnd – wieder von vorn mit dem Suchen nach adäquaten Strategien, ihm beizukommen. Immerhin wir sind schon wieder Millionen.

(1) Wolfgang Kraushaar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hamburger Institut für Sozialforschung, das von Jan Philipp Reemtsma geleitet wird. Kraushaar ist Herausgeber des zweibändigen Buchs »Die RAF und der linke Terrorismus«, Hamburg 2006.

(2) Peter Lorenz war 1969 bis 1981 Landesvorsitzender der Berliner CDU und von 1982 bis 1987 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeskanzler und Bevollmächtigter der Bundesregierung in Berlin. 1975 wurde er von der Bewegung 2. Juni entführt.
Der Text erscheint demnächst in der Zeitschrift Die Ak­tion– Guerilla-Monolog (III) im Verlag Edition Nautilus.

Inge Viett ist ehemalige Aktivistin der Bewegung 2. Juni und der RAF. Sie ging 1982 aus dem Untergrund in die DDR ins Exil

natter | 08.03.07 17:03 | Permalink