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Brasiliens Befreiungstheologe Boff kritisiert Elite-und Bankiersliebling Lula kurz vor Wiederwahl

"Illusion und Desillusionierung"
Hitler, NPD, Günter Grass, Lula

von Klaus Hart, Sao Paulo

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen vom 1. Oktober hat Brasiliens Befreiungstheologe Leonardo Boff die Politik des rechtssozialdemokratischen Staatschefs Lula noch einmal heftig kritisiert, ihm neoliberale Politik vorgeworfen, die dem Volke das Blut aussauge. Wer sich an Boffs Positionen vor und nach Lulas Wahl von 2002 erinnert, kommt ins Staunen. Denn auch in den deutschen Kommerzmedien war Boff damals immer wieder als Kronzeuge für die durchweg saubere, soziale und progressive Politik des "Hoffnungsträgers"Lula zitiert worden. Deutsche und brasilianische Auslandspropaganda gingen Hand in Hand, Kritik an der "Ikone" Lula, den weit bis in die neunziger Jahre zurückreichenden üblen Machenschaften der Arbeiterpartei-Führung wurde von den Zensoren gar nicht gerne gesehen. Das erinnert an die Zeiten, als in tonangebenden deutschen Medien im Präsidentschaftswahlkampf von 1989 wider besseres Wissen der zwielichtige Fernando Collor hochgejubelt werden mußte - als progressiver, jungdynamischer Macher, als Modernisierungspapst der Dritten Welt. "Frei und demokratisch" per Pflichtabstimmung wird er gewählt, nach nur zwei Jahren vorhersehbar wegen Machtmißbrauch und monströsen Korruptionsskandalen amtsenthoben.

Leonardo Boff nahm am Lula-Wahlkampf aktiv teil und erklärte sogar, ideologisch zu dessen Arbeiterpartei zu gehören. Entgegen der Stimmung an der Kirchenbasis vergleicht er Lula selbst mit Mahatma Gandhi, nennt Lulas Regierung gerecht, ethisch und humanistisch. Brasilien unter Lula könne ein Modell für den Subkontinent werden, Lula habe seine Berater gut gewählt. Boff lobt sogar Lulas Vize, den Diktaturaktivisten, Großunternehmer und Milliardär Jose Alencar, den viele in den Gewerkschaften als einen üblen Ausbeuter und Menschenschinder charakterisieren. Auch dank Alencars Millionen, heißt es, wurde Lulas Präsidentschaftswahlkampf zu einer kommerziellen Materialschlacht, in der kein anderer Kandidat mithalten konnte – die Eliten wollten Lula – wie einst Fernando Collor - unbedingt auf dem Präsidentensessel. Boff meinte, Lula habe dank des Einsatzes der Sozialbewegungen gesiegt, die sich indessen von dieser Art Wahlkampf mit teuerster PR nach US-Vorbild, gerissenen, zuvor Rechten dienenden PR-Managern, angewidert abgewandt hatten. Nach Lulas Wahlsieg wird Boff noch enthusiastischer, veröffentlicht regelrechte Jubelarien in Brasiliens Medien: “Lula, Genosse, Freund, Bruder und Präsident – am Tag deines und unseres Sieges hat mir ein guter Engel zugeflüstert, dir diesen Brief zu schreiben...“ Lula wolle die Revolution des Offensichtlichen realisieren, jeden Bürger mit Respekt behandeln, dem spekulativen Kapital eine Niederlage beibringen. Manche Medien Europas greifen derartiges begierig auf, obwohl längst gegenteilige Informationen vorliegen.

Boffs Argumentationswechsel
Erst unter dem Druck der Fakten über Machtmißbrauch und zahlreiche Korruptionsskandale, in die Lula und zahlreiche andere Führungskräfte der Arbeiterpartei verwickelt sind, verläßt Boff seine realitätsfremde Argumentationslinie, übt jetzt Selbstkritik:“Ich war einer der Enthusiastischsten, als Lula gewählt wurde und schrieb mehr als zehn Artikel über die brasilianische Revolution, die er einleiten würde. Es war eine Ilusion, eine Desillusionierung.“ Lula habe die Chance zu großen strukturellen Reformen vertan, welche die Nation vor dem Desaster retten könnten. Die großen Weltwirtschaftsorganismen und die wichtigsten Staatschefs der Erde zeigten sich jedoch über Lula sehr glücklich, weil er „ein Element des Systems“ sei. Trotz aller Beschränkungen habe Lula indessen sozialen Fragen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, Hilfsprojekte für elf Millionen Familien ins Leben gerufen. Dies müsse indessen im politischen Kontext gesehen werden. Lula habe zwar zehn Milliarden Real der Landeswährung – ein Dollar sei 2,12 Real wert – für Sozialprojekte ausgegeben, andererseits 140 Milliarden Real in jenes Finanzsystem geleitet, das ihm das nötige Geld für seine Politik und die Bezahlung der Regierungskosten borge. „Dieser schmerzhafte Widerspruch zeigt, wie die neoliberale Makroökonomie weiterhin dem Volke das Blut aussaugt, während lediglich die Forderungen eines kleinen Teils der Bevölkerung berücksichtigt werden.“ Nicht wenige in den Sozialbewegungen, selbst Bischöfe der katholischen Kirche äußerten Analysen, Voraussagen dieser Art bereits vor Lulas Amtsantritt.
Nach seinem Argumentationswechsel hatte Boff bereits konstatiert, das soziale Chaos nehme von Tag zu Tag zu, Brasiliens Realität sei auch ökologisch pervers, die Wirtschaftspolitik der Regierung produziere soziale Ungerechtigkeit. Zwar würden die Außenschulden jetzt pünktlich bezahlt – doch um den Preis der beispiellosen Vernichtung Amazoniens durch Holzindustrie und exportorientiertes Agro-Business sowie der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Millionen. Die makroökonomische Politik Lulas führe zu unleugbarer Bestürzung, der versprochene Wandel sei nirgends in Sicht.

fortdauernde Folter, Boff, Frei Betto, MST-Führer Stedile
Da die neuen Positionen von Boff zu Lula nicht mehr zur Auslandspropaganda passen, werden sie entsprechend weniger von europäischen Medien aufgegriffen. Anders als der Befreiungstheologe und Bestsellerautor Frei Betto nimmt Boff zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen unter Lula, darunter der fortdauernden systematischen Folter, gewöhnlich nicht Stellung.

Landlosenführer Joao Pedro Stedile:“Die Regierung Lula hat einen strategischen Pakt mit der bürgerlichen Rechten und den Neoliberalen geschlossen, der ihr verbietet, die in Ansätzen progressive Politik weiterzuentwickeln.“

Gemäß bürgerlichen deutschen Medienberichten gehört indessen Brasilien unter Lula zu jenen lateinamerikanischen Staaten mit Linksruck, linkem Vormarsch, Abkehr vom Neoliberalismus. Lula hat indessen auch in seiner Amtszeit immer wieder klargestellt, daß er kein Linker sei, nicht als Linker klassifiziert werden möchte. Mitgründer der einstmals linken Arbeiterpartei haben mehrfach betont, Lula habe nie der Linken angehört.

Günter Grass, Lula, Hitler, NPD
In einem Land, in dem nicht wenige problemlos den amtlichen Vornamen „Hitler“ tragen(im Telefonbuch Sao Paulos steht sogar ein „Himmler Hitler Göring Ferreira Santos“), sind zudem Lulas Sympathien für Adolf Hitler bemerkenswert, die er bereits als Gewerkschaftsführer in einem Interview äußerte:“Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen...Was ich bewundere, ist die Bereitschaft´, die Kraft, die Hingabe.“

In Europa wird weiterhin heftig über die SS-Mitgliedschaft von Günter Grass debattiert. Man kann sich unschwer vorstellen, welchen Verlauf die Diskussion nähme, falls sich Günter Grass wie Lula zu Hitler äußerte. Und manches NPD-Herz, ob in Westdeutschland, Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern, würde wohl höher schlagen, wenn auch in Deutschland ganz amtlich Vornamen wie Hitler oder Himmler möglich wären - so wie in der größten Demokratie Lateinamerikas, in unserer "Einen Welt". Manchen NPD-lern würde es sicher auch gefallen, wenn beinahe flächendeckend in den Modekaufhäusern Kleiderständer in Hakenkreuzform stünden, die man dann auch praktischerweise gleich Hakenkreuz nennen würde, so wie in Brasilien üblich. Zwar protestieren jüdische Auschwitz-Überlebende in dem Tropenland entsprechend, doch ohne Erfolg. Auch unter Lula sind in Brasilien weiterhin Straßen, Avenidas, Plätze, sogar ein ganzer Flügel des Nationalkongresses nach Filinto Müller benannt. Der war unter Diktator Getulio Vargas Chef der Geheimpolizei, gelehriger Schüler der GESTAPO. Er sorgte für die Auslieferung der Jüdin Olga Benario an Hitlerdeutschland - in Bernburg wurde sie vergast. In Brasilien definieren sich gemäß einer neuen Umfrage 47 Prozent der Wähler als rechts. Wie hoch ist der Prozentsatz in Deutschland? Eine Welt.

Klaus | 20.09.06 23:24 | Permalink