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Brasilien weiter Folterstaat

Befreiungstheologe und Bestsellerautor Frei Betto:"Wir sind noch weit entfernt von den Normen der Zivilisation"
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Torturen im Irak interessieren in Europa viele, die weit gravierenderen, täglichen in Brasilien dagegen kaum. Die Menschenrechtsorganisationen und die katholische Kirche des Tropenlandes prangern seit Jahrzehnten kontinuierlich an, daß auch nach dem Übergang zur bürgerlichen Demokratie die Folter alltäglich ist. Ein nennenswertes Echo aus Europa gab es darauf nie, in der Amtszeit von Staatschef Lula aus den bekannten Gründen gleich gar nicht. Jetzt ging Lulas Ex-Berater Frei Betto im Präsidentschaftswahlkampf mit einer bemerkenswerten Anklage an die Öffentlichkeit: In Brasilien greift der Staat zu Methoden aus der Nazizeit, verwandelt Gefängnisse in Konzentrationslager, wendet die Folter hauptsächlich gegen Arme an.

Der 61-jährige Befreiungstheologe war zwei Jahre lang Lulas Berater im Präsidentenpalast von Brasilia, bis er diesen Posten aus Unzufriedenheit mit Lulas Politik verließ. Lula hat indessen größte Chancen, im Oktober wiedergewählt zu werden.
„Wir sind noch sehr weit entfernt von den Normen der Zivilisation“, sagt der
Dominikaner im Interview in Brasiliens Wirtschafts-und Kulturmetropole Sao Paulo. „Brasilien hat noch nicht einmal eine Agrarreform verwirklicht, was Deutschland bereits im 16. Jahrhundert tat. In Brasilien wurde zu allen Zeiten gefoltert. Während der über 350 Jahre beibehaltenen Sklaverei hielt man die Folter für legitim – sie wurde sogar von der katholischen Kirche praktiziert, die ja Sklaven hatte. Heute ist Folter zwar als Verbrechen definiert, wird aber weiterhin systematisch angewendet.“ Frei Betto kennt sich aus: Während der Militärdiktatur(1964 – 1985) wurde er mit vielen anderen Dominikanern eingekerkert, erlitt Torturen. „Der gravierendste Fall war Frei Tito de Alencar Lima, der infolge brutaler Folter geistesgestört wurde, mit 28 Jahren Selbstmord beging. Ich berichte darüber in meinem Buch Batismo de Sangue, das jetzt verfilmt wurde – Anfang 2007 ist Kinostart.“
Heute wird laut Frei Betto vor allem in den brasilianischen Haftanstalten gefoltert. Als Beispiel nennt er den Gefängniskomplex von Araraquara nahe Sao Paulo, den man in ein Konzentrationslager verwandelt habe. Brasiliens Kirche protestierte deshalb bei den Vereinten Nationen. Doch auch in den Polizeiwachen sei Folter Routine, die Methoden stammten aus der Militärdiktatur. “Gegen Verdächtige aus der Unterschicht wird heute nicht ermittelt, sondern man foltert sie auf den Polizeiwachen, um Geständnisse zu erpressen. Man verpaßt ihnen Elektroschocks, taucht den Kopf in einen Wassereimer, verbrennt ihnen die Haut mit der Zigarette oder treibt ihnen Messer unter die Fingernägel. All das sind üble Greuel. Viele Festgenommene bekennen sich daraufhin zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben und kommen deshalb für viele Jahre hinter Gitter. In der Großstadt Recife wurde jetzt ein alter Mann nach über zehn Jahren entlassen. Er war völlig unschuldig und in der Haft erblindet.“ In Sao Paulo wurde vor mehreren Jahren ein Nobelrestaurant überfallen, acht Festgenommene waren gemäß amtlichen Angaben rasch geständig, sahen einer langen Gefängnisstrafe entgegen. Zufällig stieß die Polizei auf die wahren Täter – die acht hatten sich unter der Folter zu dem Überfall bekannt.
Laut Frei Betto ließ Staatschef Lula jetzt per Dekret ein Nationalkomitee zur Kontrolle der Folter gründen. „Wieso nicht zur Bekämpfung, nur zur Kontrolle? Mit Kontrolle will man gewöhnlich etwas Existierendes überwachen, Mißbrauch und Übertreibungen verhindern. Doch die Folter muß ausgerottet werden wie der Hunger!“
--Viele Brasilianer für Polizeifolter—
Der Ex-Berater ruft seine Landsleute auf, Folterungen mutig anzuzeigen. Es müsse die Angst aufhören, im Namen des Staates und des Gesetzes begangene Greueltaten öffentlich anzuprangern. Frei Betto weiß indessen auch aus Meinungsumfragen, daß ein beträchtlicher Teil der Brasilianer für das Foltern von Verdächtigen ist, solcher Polizeigewalt applaudiert. In Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt mit über tausend deutschen Unternehmen, betonten immerhin 24 Prozent der Bewohner, in manchen Vierteln sogar 31 Prozent, daß die Polizei immer, oder wenn nötig, foltern sollte, damit Tatverdächtige gestehen. Folter werde damit mehr unterstützt als im Jahre 2000. Bemerkenswert: Die Mehrheit der Befürworter sind Frauen zwischen 16 und 25 Jahren, mit Grund-und Mittelschulbildung.
„Das ist dramatisch und zeigt, daß die Leute hier nach der Philosophie Auge um Auge, Zahn um Zahn handeln. Als ich eingekerkert war, stammten fast alle Folterinstrumente der Polizei aus Großbritannien. Es gibt also Leute, die sich mit dem Entwickeln solcher Dinge befassen.“
Außerhalb Brasilien halten viele die Lula-Regierung für progressiv. Aber warum ließ sich die Folter in vier Amtsjahren nicht, wie versprochen, abschaffen? In den Wahlkämpfen von Lulas Arbeiterpartei PT spielte die gravierende Menschenrechtslage keine, oder kaum eine Rolle. „Alles was ich darüber denke, steht in meinem neuesten Buch A Mosca Azul – Reflexao sobre o Poder.“ Frei Betto zählt zu den führenden Intellektuellen Brasiliens, war an der PT-Gründung maßgeblich beteiligt, hat 53 Bücher geschrieben – auch das neueste ist ein Bestseller. Er wirft darin Lula und der PT-Spitze Prinzipienverrat, Bruch von Wahlversprechen vor. Auch in Deutschland wird Lulas Lobby nicht müde, den Staatschef ausgerechnet als Linken zu definieren, obwohl er dies seit jeher bestreitet. Auch für Frei Betto ein kurioser Fall. Als Staatschef „hat er öffentlich deklariert, nie der Linken angehört zu haben – er vermied strukturelle Reformen, wie die des Bodens. Die Macht verändert die Personen nicht, führt aber dazu, daß sie ihr wahres Gesicht zeigen.“ Nach wie vor stecken Lula und die PT-Führung tief im Korruptionssumpf, werden immer neue Details bekannt. Auch Lulas Auslandslobby spielt die Fälle herunter. Frei Betto, der zwei Jahre die Vorgänge vor Ort im Präsidentenpalast beobachtete, sieht dagegen „verratene Ideale, geraubte Träume“. „Der kleinen PT-Führungsspitze gelang in wenigen Jahren, was die Rechte nicht einmal in Jahrzehnten, nicht einmal in den schwärzesten Jahren der Diktatur schaffte: Die Linke zu demoralisieren, zu zersetzen.“
--Folter schürt Haß und Sozialkonflikte—
Wenn ungezählte Unschuldige auch unter Lula gefoltert werden, kann man von diesen, ihren Angehörigen schwerlich Sympathien für den Staat erwarten. Diese Menschen haben Wut und Revolte im Leib. Durch die Folter, so analysiert Frei Betto, werden in der Unterschicht, in den Slums der Haß auf das System, Sozialkonflikte und Gewalt weiter geschürt.
“Man will eben keinen sozialen Frieden im Lande. Und oft foltert die Polizei nicht einmal, sondern tötet gleich. Nach den jüngsten Terroranschlägen des organisierten Verbrechens in Sao Paulo haben die Sicherheitskräfte über hundert Menschen liquidiert, von denen die meisten keinerlei Schuld hatten. Häufig foltert die Polizei nur deshalb, um an das Raubgut von Banditen, darunter Rauschgift heranzukommen und es sich anzueignen. Unser Polizei-und Gefängnissystem ist nicht nur gewaltgeprägt, sondern auch korrupt.“
Nach der ersten Anschlagsserie, die vom Verbrechersyndikat PCC während der Fußball-WM gestoppt und danach fortgesetzt wurde, hatte auch der Direktor des Goethe-Instituts von Sao Paulo, Dr. Wolfgang Bader, einen Aufschrei der Zivilgesellschaft erwartet. Doch erstaunlicherweise reagieren die meisten Brasilianer weitgehend apathisch und fatalistisch, sieht die Kirche das Verbrechen als „eine organisierte, spürbar an Macht gewinnende Kraft in einer desorganisierten Gesellschaft“. Dr. Bader überrascht, daß die brasilianische Zivilgesellschaft jetzt ganz anders reagiert, als man es etwa in Europa, in Deutschland gewohnt ist. Die erwartete Großempörung habe es nicht gegeben - der Aufschrei, gar Strategien von Assoziationen der Zivilbevölkerung fehlten – und das sei enttäuschend.
Frei Betto nennt dies unerklärlich und beklagenswert. “In Brasilien herrscht ein Klima der Mutlosigkeit, der Enttäuschung, auch der Lethargie und politischen Apathie – selbst angesichts der Korruptionsskandale im Nationalkongreß. Die Leute reagieren nicht, obwohl sie derzeit besonders intensiv reagieren müßten. Wir haben heute eine recht desorganisierte Gesellschaft. Viele denken, es ist sinnlos, sich zu engagieren – wir haben so viele Jahre gekämpft, und jetzt haben wir dieses Resultat. Der Moment der Flaute wird noch verstärkt durch die Verführungen des Konsumismus, den neoliberalen Prozeß. Ich hoffe, es gibt im Oktober irgendeine Reaktion an den Wahlurnen. Wir haben auch noch sehr viel sexuellen Mißbrauch von Kindern in Brasilien, Zehntausende von Sklavenarbeitern.“
Auch in den deutschen Medien wurde kaum Notiz davon genommen bzw. heruntergespielt, daß sich Lula ausgerechnet einen Milliardär, Großunternehmer und Diktaturaktivisten zum Vize erwählte. Und mit ihm jetzt erneut in den Wahlkampf zieht. Wie wäre das in Deutschland – ein Boß der Deutschen Bank, von Siemens oder Daimler-Chrysler als Angela Merkels Vizekanzler? „Brasiliens katholische Kirche“, so Frei Betto, „hat die Regierung, und auch Lulas Vize stets heftig kritisiert – ich denke, das macht sie gut und richtig. Wir müssen weiter im Namen der Armen unsere prophetische Mission erfüllen und die Menschenrechte verteidigen.“
--Kuba – Brasilien—
Frei Betto nennt sich einen kritischen Freund Kubas, sein Buch über Fidel Castro ist ebenfalls ein Bestseller. Gäbe es systematische Folter, Todesschwadronen, zehntausende Sklavenarbeiter, massenhaften sexuellen Mißbrauch von Kindern, in Konzentrationslager verwandelte Gefängnisse auf Kuba, wäre vorhersehbar, wie Deutschland, die EU üblicherweise reagieren würden. Goethe-Institute wie das in Sao Paulo würden dann in Havanna natürlich sofort unter Protest geschlossen. Brasilien hat da womöglich bisher Glück gehabt. Die vierzehnte Wirtschaftsnation Brasilien rangiert unter Lula auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung an 72. Stelle, in der Staatengruppe mittleren Entwicklungsniveaus. Kuba liegt dagegen an 52. Stelle – mit Chile und Argentinien, Deutschland und Schweden in der Spitzengruppe der Länder mit hohem Entwicklungsniveau.


Klaus | 31.07.06 23:43 | Permalink