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Brasiliens Massaker an Landlosen nach zehn Jahren weiter ungesühnt

Protestaktionen der Sozialbewegungen
"Lula-Regierung ohne Courage"

--von Klaus Hart, Sao Paulo--

Im April 1996 hatten Hunderte von verelendeten Landlosenfamilien in Eldorado de Carajas im Amazonasteilstaate Parà eine Straße besetzt - eine Sondereinheit der Militärpolizei schoß daraufhin mit Maschinenpistolen in die Menge. Laut amtlichen Angaben wurden neunzehn Menschen getötet und über fünfzig teilweise schwer verwundet. Die Beamten und Offiziere der Sondereinheit sind ebenso wie die politisch Verantwortlichen des Blutbads weiterhin auf freiem Fuß - auch die Proteste internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty blieben erfolglos.

Mehrere Dutzend der Überlebenden sind schwerbehindert, vielen wollte oder konnte man die Kugeln in Kopf, Brust oder Beinen nicht herausoperieren. Wer damals bei der Straßenblockade in Eldorado de Carajas dabei war, erinnert sich an schreckliche Szenen: Der neunzehnjährige Oziel Pereira, so Augenzeugen, mußte sich vor den mit Mpis bewaffneten Militärpolizisten hinknien, wurde gezwungen, laut auszurufen:“Es lebe die Landlosenbewegung MST!“ Dann liquidierten sie ihn mit einem Genickschuß. Andere Landlose werden sogar totgeschlagen, erstochen, die meisten Opfer aber mit Mpi-Salven niedergemäht. Nur zwei Offiziere, die das Massaker geleitet hatten, wurden zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, legten jedoch Berufung ein und blieben daher bis heute auf freiem Fuß. Joao Paulo Rodrigues zählt zu den Führern der Landlosenbewegung, koordiniert in diesen Tagen und Wochen auch die Besetzung brachliegender Ländereien in ganz Brasilien. “Das Massaker von Eldorado de Carajas wurde zwar von den Großgrundbesitzern der Region organisiert, zu unserer Überraschung jedoch nicht etwa durch deren Pistoleiros, sondern durch den brasilianischen Staat, dessen Repressionspolizei ausgeführt. Wir hatten die Hoffnung, daß wenigstens die Auftraggeber, darunter der Gouverneur des Teilstaates Parà, Almir Gabriel, sowie der Chef der Militärpolizei, verurteilt würden – aber dies geschah nicht. Deshalb sind wir empört, wütend. Wenn zehn Jahre nach dem Blutbad niemand von den Schuldigen hinter Gittern ist, muß man sich fragen: Wem dient diese Demokratie, diese Justiz? Für die Überlebenden des Massakers gibt es weder eine Entschädigung noch medizinisch-psychologische Betreuung – der Staat fühlt sich zu nichts verpflichtet.“

Über einhundert Ermordete?
Zehn Jahre nach dem Blutbad steht laut Joao Paulo Rodrigues zudem die Opferzahl immer noch nicht fest. Laut amtlichen Angaben wurden neunzehn Männer getötet. Gemäß Zeugenaussagen starben indessen über einhundert Menschen, möglicherweise auch Frauen und Kinder. Der MST zitiert Josè Carlos Agarito, 27:“Ich denke, mehr als hundert hat man getötet. Wo sind all die Kinder und Frauen geblieben, die damals am Tatort waren? Niemand von diesen zählte man später offiziell zu den Opfern, nur ausschließlich Männer. Viele sagten, ein LKW mit blutbefleckter Plane sei damals in Richtung Xinguara davongefahren.“ MST-Führer Rodrigues: “Wir wissen immer noch nicht, was mit den Toten geschehen ist, da sie von der Militärpolizei in einer verdeckten Aktion sofort weggeschafft worden sind. Es gibt Informationen, daß man Landlose auf dem Weg zum Hospital exekutiert hat. Alles ereignete sich ja in einer schwer zugänglichen, unübersichtlichen Region. Wäre nicht die Presse, hätte das Massaker kaum Aufmerksamkeit erregt. In Parà sind die letzten zehn Jahre bei Landkonflikten über 130 Menschen ermordet worden – nur in zwölf Fällen wurde ermittelt, niemand kam ins Gefängnis. “

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Joao Paulo Rodrigues

Mitschuldiger ist FU-Berlin-Ehrendoktor
Zwei internationale Tribunale in Brasilien mit Vertretern der UNO und des Weltkirchenrates hatten auch den damaligen Staatschef Fernando Henrique Cardoso von der sozialdemokratischen Partei(PSDB) zum Mitschuldigen erklärt – er ist weiterhin Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Wie stehen deren Studenten dazu?
Gouverneur Almir Gabriel hatte dem Vernehmen nach das harte Vorgehen gegen die Landlosen mit seinem Parteifreund Cardoso abgestimmt.

Von Cardosos Amtsnachfolger Luis Inacio Lula da Silva hatte sich die Landlosenbewegung ein Ende der Straflosigkeit erhofft, wurde jedoch enttäuscht. Wahlversprechen in Bezug auf die gravierende Menschenrechtslage wurden fast durchweg gebrochen. Joao Paulo Rodrigues: “Die Lula-Regierung hätte im sehr konservativen Justizapparat intervenieren können – doch dazu fehlt ihr leider die politische Courage. Es ist eine schwache Regierung, die zudem zugelassen hat, daß in ihrer Amtszeit bisher bei Landkonflikten über einhundert Menschen ermordet wurden – und in allen Fällen Straffreiheit herrscht.“
Gravierende Menschenrechtsverletzungen unter Lula nur fern der brasilianischen Großstädte, im Hinterland? Der Diktaturgegner, Schriftsteller und grüne Kongreßabgeordnete Fernando Gabeira, einst im Westberliner Exil, weist auf die Zustände in der brasilianischen Tourismusmetropole Rio de Janeiro:"Ich habe nie ignoriert, daß es dort geheime Friedhöfe gibt - und Öfen in den Felsen, wo man Menschen lebendig verbrennt..."

Die Landlosenbewegung wirft Brasilia zudem vor, die Großgrundbesitzer und das exportorientierte Agrarbusiness zu fördern, die laut Verfassung vorgeschriebene Verteilung ungenutzten Bodens an Hunderttausende von Landlosenfamilien jedoch nicht konsequent voranzutreiben. „Lulas halbherzige Agrarreform ist nur eine Art Ersatz, ist Kompensation, um sich mit den Sozialbewegungen gutzustellen“, sagt Rodrigues im Interview. „Da wird nur das nötigste getan, während das Agrobusiness für die Regierung Priorität hat. Dafür wird Brasilia womöglich noch teuer bezahlen, unnötig in diesen Sektor investiert zu haben. Denn das Agrobusiness schafft nur wenige Arbeitsplätze, schädigt aber die Umwelt enorm. Wir haben eine pragmatische Regierung, die auf kurzfristige Resultate aus ist – und sich mit dem Finanzkapital verbündete. Falls die Regierung wirklich unser Land entwickeln wollte, müßte sie in die Infrastruktur investieren, den Eisenerzkonzern Vale do Rio Doce, einen der größten der Erde, wieder verstaatlichen, Partnerschaften mit den Kleinbauern fördern, den veralteten Industriepark erneuern. Leider hat die Lula-Regierung kein Projekt für diese Nation, suchte sich als wichtigste Partner den Weltwährungsfonds, die Welthandelsorganisation. Ich befürchte, daß Lula bei der Wiederwahl Probleme haben wird, da er Dinge versprach, die er nicht zur Hälfte realisiert hat.“

MST-Wiederwahlslogan: Mit Lula schlecht, ohne ihn noch viel schlechter
Doch der MST setzt weiter auf Lula:“Ich bin sicher, er wird wiedergewählt, da die Rechte keinen ebenbürtigen Kandidaten besitzt. Geraldo Alckmin von der PSDB halte ich für sehr schwach, wenngleich ihn die Eliten als Staatschef wollen. Ich denke, Lulas Charisma wirkt bei den verarmten, verelendeten Massen – das sind immerhin achtzig Prozent der Brasilianer. Unser Wahlslogan lautet – mit Lula ist es schlecht, aber ohne ihn wäre es noch viel schlechter. Leider wird im Wahlkampf nicht um Projekte gestritten, sondern nur um kleinliche Politik. Aber Brasiliens Probleme lassen sich durch Wahlen n icht lösen. Wenn das Volk nicht auf die Straße geht, um diese Demokratie zu radikalisieren, die Sozialpolitik zu verbessern, werden wir hier schwerlich vorankommen.“


Klaus | 19.04.06 23:25 | Permalink