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Auf der Suche nach der Herkunft eines deutschen Rufes

Da glaubt man, über den Herbst 1989 in der DDR sei bereits alles gesagt, zerschrieben und zerforscht worden und dann heute das:

Die WELT meldet „Deutschlandradio Kultur sucht Zeitzeugen, die etwas über die Entstehung des Rufes «Wir sind das Volk!» erzählen können. (…) Die Ergebnisse sind am 28. und 29. September («Wir sind das Volk!» und «Wir sind ein Volk», jeweils 13.07 Uhr) zu hören, kündigte der Sender an.“

Wir verraten schon einmal jetzt, hier im OST:BLOG, wie das damals war. :)


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Auf den Demonstrationen Anfang Oktober 89 in Leipzig und Berlin hatte es sich die Polizei zur Angewohnheit gemacht, nach einer gewissen Zeit, per Lautsprecher zu verkünden „Hier spricht die VOLKspolizei“ um dann anschließend die Demonstranten zur sofortigen Räumung der Straße aufzufordern. Die antworteten dann darauf gern mit den Rufen „VOLKspolizei, steh dem VOLKe bei“ oder mit „WIR sind das VOLK“. Auch wenn das heute einige Leute gern hätten, der Spruch war Anfangs in keiner Weise völkisch motiviert, sondern war eher der Ausdruck eines Dialogsversuchs. Wie (und von wem) dann allerdings, die Parole modifiziert wurde, ist ein kleines Lehrstück. Bekanntermaßen folgt ja in Deutschland auf jede halbe Revolution immer eine ganze Konterrevolution. „Wir sind EIN Volk“ signalisierte den Anfang vom Ende des ostdeutschen Emanzipationsversuchs.

Ein paar Strippenzieher von damals geben ja dazu heute gern Auskunft:

„11. November 1989. Zwei Tage nach dem Mauerfall. Tausende von DDR-Bürgern strömen über die Grenze. Die "Bild"-Zeitung schreibt:

"Wir sind das Volk" rufen sie heute - "Wir sind ein Volk" rufen sie morgen!

Am Tag zuvor sitzen "Bild"-Chefredakteur Hans-Hermann Tietje und Herbert Kremp, Chefkorrespondent der "Welt" in Brüssel, in Hamburg zusammen. Sie besprechen, wie auf die Maueröffnung zu reagieren sei. Herbert Kremp, Autor des "Bild"-Kommentars:

Herbert Kremp: Als bei den Montagsdemonstrationen der Ruf erklang "Wir sind das Volk!", war es für mich - bei meinen Auffassungen - selbstverständlich, dass ich sagte, das muss eigentlich heißen "Wir sind ein Volk."

Für ihn ist auch klar:

Kremp: Die Wiedervereinigung wird kommen, das war damals, also am 11.11, also genau in dieser Novemberzeit, eigentlich noch gar nicht so ein Tenor der offiziellen Politik.

Sofort nach dem Mauerfall notiert Peter Radunski, Chef der Öffentlichkeitsarbeit der Bundes-CDU, in seiner Kladde: Thema Wiedervereinigung jetzt besetzen!

Radunski: Wir haben festgestellt, das war auch stark diskutiert worden im Bundesvorstand und Präsidium, dass eigentlich die Selbstbestimmung nicht das sein kann, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann.

Es gibt auch Zögerer in der CDU. Aber von den entscheidenden Köpfen, weiß Radunski, gibt es Rückendeckung.

Radunski: Dies hat es vorher auch in der Diskussion schon bei einigen Politikern gegeben, die eigentlich mehr dem Rechts-Mitte-Flügel angehören, zum Beispiel Alfred Dregger.

(…)

Hinter den Kulissen stemmt die Bundes-CDU in der Woche vom 11. bis 17. November einen Aktionsplan. Es gilt, die Meinungsführerschaft zu übernehmen:

Radunski: Eine Sitzung war am 16. abends im Adenauerhaus, eine so genannte Kommunikationsrunde. Und bei dieser Kommunikationsrunde, das kann ich aus meinen Notizen deutlich sehen, ist gesagt worden: Kinder, wir machen ein Plakat "Wir sind ein Volk". Das heißt, in Weiterentwicklung des Slogans, der in der damaligen DDR skandiert wurde: "Wir sind das Volk".

Die Geburtsstunde des eigentlichen Slogans, der Kampagne "Wir sind ein Volk!". Die "Bild"-Zeitung weiß um ihre Durchschlagkraft. Herbert Kremp, Autor des "Bild"-Kommentars:

Kremp: Wir hatten natürlich eine Multiplikationskraft, die war enorm, die lag natürlich weit über irgendeiner Plakataktion. Das ist ganz klar, also was in der Bildzeitung damals stand, also in größerer Aufmachung, das wurde also mit Sicherheit allgemein registriert. Auf die Formel möchte ich es mal bringen.

Die Öffentlichkeitsarbeit der CDU verfährt im November 1989 ebenfalls nach dieser Formel.

Radunski: Wissen Sie, ´ne gute Politik ist ja dann ein Dialog. Das eine hört man aus dem Volk, das andere gibt man ins Volk.

Am 13. November, auf der ersten Montagsdemonstration nach dem Mauerfall in Leipzig, beobachtet Matthias Karkuschke, Lehrling in der Berufsschule der Deutschen Reichsbahn:

Karkuschke: An dem besagten 13.11. waren auch schon Stände von Westparteien, die halt ihre Plakate oder sonstiges Informationsmaterial feilboten, dabei.

Also ich hab beobachtet, dass halt diese Sprechchöre nicht zentral gesteuert waren, sondern das sehr spontan von kleinen Gruppen ausging. Das war niemals so, dass das 100.000 gerufen haben. Die Stimmung am 13.11 war halt schon so, dass die Wiedervereinigung dort ´ne Rolle spielte und das da Leute einfach auch dabei waren, die genau in diese Richtung Dinge initiierten. Und wo dann auch gesagt wurde "Wir sind ein Volk!" oder "Wir sind das Volk!". Und diese Sprüche wechselten sich halt schon ab. Das ist in meiner Erinnerung so präsent, ich kanns halt definitiv auf den 13.11 sagen, weil die Stimmung ne komplett andere war.

Die Meinungen auf den Montagsdemonstrationen beginnen sich zu spalten. Die CDU schwört ihre Landesverbände auf die neue "Aktion zur Deutschlandpolitik" ein.

Radunski: Wir haben das nicht zentral gemacht, aber wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft. Und dabei sind sicher auch Junge-Unions-Leute nach den einzelnen Teilen der DDR gekommen und haben sicher da auch die Wandzeitung oder das Plakat "Wir sind ein Volk" hochgehalten.

Aus einem schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle geht hervor:

Versand an die Kreisverbände:
Plakate "Wir sind ein Volk" - Erste Auflage 12.800 Stück.
Aufkleber "Wir sind ein Volk" - Erste Auflage: 100.000 Exemplare. Zweite Auflage: 300.000 Exemplare.“

(Quelle: DeutschlandRadio Berlin"Wir sind ein Volk!" Auf der Suche nach der Herkunft eines deutschen Rufes)

Quod erat demonstrandum.

A.S.H. | 24.08.05 13:30 | Permalink