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Vor dem Weltsozialforum 2005 - wohin treibt Brasilien?

Künstler und Intellektuelle kritisieren Machteliten und Oligarchien
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
In Europa definieren viele Staatschef Lula weiterhin als Linken, gar als Sozialisten - in Brasilien selbst wird er indessen als Konservativer, mit Rechtstrend, eingestuft. Brasiliens Kulturschaffende und Intellektuelle hatten im Wahlkampf von 2002 kräftig mitgeholfen, daß mit dem Ex-Gewerkschaftsführer erstmals in der Geschichte des Tropenlandes ein Mann aus dem Volke, aus der Unterschicht in den Präsidentenpalast von Brasilia einziehen konnte, nun die größte lateinamerikanische Demokratie regiert.Lula wurde als Hoffnungsträger Brasiliens, ganz Lateinamerikas, gar der ganzen Welt gefeiert.

Einer, der in der immerhin zwölftgrößten Wirtschaftsnation die skandalösen Sozialkontraste, den Hunger beseitigt. Zwei Jahre später, in der Mitte von Lulas Amtszeit, sind all die Schriftsteller, Künstler, Komponisten wie Chico Buarque, Intellektuelle wie der Befreiungstheologe Leonardo Boff, enttäuscht bis entsetzt, weil unter Lula weitgehend alles beim alten blieb – mehr Elend und Gewalt im Lande, mehr Barbarei in den rasch wachsenden Slums, der Hunger längst nicht besiegt. Boff hatte Lula anfangs gar euphorisch mit Gandhi verglichen:“Lulas Regierung ist gerecht, ethisch und humanistisch wie bei Gandhi in der Politik.“ Doch inzwischen wirft der Befreiungstheologe Lulas Wirtschaftspolitik vor, soziale Ungerechtigkeit zu produzieren. Das soziale Chaos nehme von Tag zu Tag zu, Brasiliens Realität sei auch ökologisch pervers.
--„Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht“—
Dazu fortdauernde Herrschaft der Eliten, denen Lula auf den Leim gegangen sei, sich gar einen reaktionären Milliardär und Großunternehmer zum Vize und Verteidigungsminister erwählte, Repräsentant der Machteliten. „Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht“, erklärt der Schriftsteller und Befreiungstheologe Frei Betto, bevor er Ende 2004 seinen Posten als Berater von Staatschef Lula aufgibt. Zur Begründung verglich er die Lula-Regierung mit einem Schiff, das entgegen ersten Plänen völlig widersinnig den Kurs ändert, in die entgegengesetzte Richtung steuert. Da sei ihm nur übriggeblieben, von diesem Schiff abzuspringen, ans Ufer zu schwimmen, treu den eigenen Wertvorstellungen, Grundüberzeugungen.
In Lulas erstem Amtsjahr wechseln die Eliten von Skepsis zu Jubel, weil die Regierung ihnen selbst in einem Rezessionsjahr geradezu phantastisch die Taschen füllt. Fünftausend neue Millionäre in nur einem Jahr – das hatte man Lula nicht zugetraut. Der Intellektuelle Eurico Figueiredo aus Rios dichtestbesiedeltem Stadtviertel Copacabana zitiert einen Börsenmakler, der bislang Lula haßte, doch jetzt zuhause eine große Lula-Statue aufstellen will:“Nie zuvor habe ich dermaßen viel verdient.“
Eine Welle des Konservatismus schwappt über Brasilien, deutlich sichtbar in der Politik und selbst in den Verhaltensweisen der Menschen, analysiert sogar Chico Buarque, der große, angesehenste nationale Komponist und Sänger, dazu Romancier, aus Rio. Der Sechzigjährige sieht deutlich mehr Konformismus, Zynismus, Intoleranz, Rassismus, reaktionäres Denken, zuallererst in der Upperclass, der Elite. „Alternativen sind nicht sichtbar, die Lage wird schlechter, wir driften in eine irrationale Situation hinein.“ Die Lula-Regierung vergebe historisch einmalige Chancen für soziale Verbesserungen, bleibe untätig.
Der Jahreswechsel 2004/2005 liefert das passende bizarre Bild: Jene neofeudalen Banditenmilizen, die die Mittel-und Oberschicht mit Rauschgift versorgen, feuern in den riesigen Slums der Zuckerhutmetropole nachts mit zehntausenden Maschinengewehren stundenlang Salut, zur Machtdemonstration – sogar nur einige hundert Meter von der Luxuswohnung des Kulturministers Gilberto Gil entfernt. Und die ausländischen Touristen denken allen Ernstes, die Leuchtspurgeschosse seien Freudenfeuerwerk.
--„Eliten ohne Sinn für Zivilisation“—
Komponist Chico Buarque nennt die tonangebende Oberschicht zunehmend kulturloser – und für Jurandir Freire Costa, einen der führenden Intellektuellen Brasiliens, ist sie sogar sozial verantwortungsloser als je zuvor. “Die alten Eliten fühlten sich wenigstens minimal der Tradition, der Geschichte, der Zukunft ihres Landes verpflichtet – den Eliten von heute fehlt dazu jegliche Bindung, zudem jeglicher Sinn für Zivilisation. Sie sind erschreckend belanglos, oberflächlich, drücken das kulturelle Niveau. Und schauen auf den Rest des Landes, als gehe er sie nichts an, verlassen ihre privilegierten Zirkel nur, um in die USA, in reiche Länder Europas zu fliegen, dort genauso weiterzuleben.“
Für den Universitätsprofessor und Therapeuten Costa aus Rio ist verhängnisvoll, daß diese Eliten indessen beispielgebend wirken, kopiert werden, Verhaltensweisen formen, bis tief hinein in die Unterschicht. Ein enormer Kulturverlust, die Masse leichter manipulierbar. In seinem neuesten elitekritischen Buch „Die Spur und die Aura“, beschreibt er, wie das öffentliche Leben der Logik des Spektakels, der Show, der Unterhaltung unterworfen wird - Autoritäten wie Staatschef Lula inbegriffen. Die Eliten mit einer Idee vom Leben als ewigwährendem Vergnügungspark.
“Diese Leute mit ihrem provozierenden Lebensstil, dem hohen Drogenkonsum, sind in ihrer sozio-kulturellen Wahrnehmungsfähigkeit so dressiert, daß sie die Misere, die Verelendeten überhaupt nicht mehr sehen, sogar negieren. Pure Verantwortungslosigkeit, die sich reproduziert, in der Gesellschaft Schule macht.“
Ein Resultat der von den Eliten aufrechterhaltenen scharfen Sozialkontraste ist laut Costa die überbordende Gewalt, mit mehr Toten als im Irakkrieg. Entführungen von Geldleuten, Prominenten, Bandenüberfälle in Nobelvierteln – das zumindest wird von der Upperclass als störend wahrgenommen. Sie könnte intervenieren, sei jedoch inkonsequent und provoziere damit noch mehr Misere, Banditentum.
“Denn ein Teil der Verelendeten wird gewalttätig, will an das Geld der Reichen, um dann den Lebensstil der Eliten zu kopieren - weiter nichts. Die verarmten Massen in den Metropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo ohne ethisch-moralische Wurzeln, eine junge Generation, die keinerlei Respekt mehr hat für das tatsächlich Wertvolle in einer Gesellschaft. Zynismus, Individualismus, Verantwortungslosigkeit – das haben sie von Geburt an überall beobachtet. Doch Leute wie ich dürfen deswegen nicht in Nihilismus verfallen, wir müssen Zivilcourage zeigen, anklagen, anprangern.“
--„Wer regiert, sind nicht die Regierungen“—
Costa stellt klar, daß nicht nur in Brasilien, sondern in aller Welt die Leute nicht mehr an die Politiker glauben. „Denn alle wissen, daß die Staatsmänner doch nur Verwalter im Dienste großer Unternehmen sind. Ob es sich nun um die Regierungen der USA, Deutschlands, Japans, Frankreichs, Großbritanniens handelt – alles nur eingesetzte Administratoren. Wer regiert, sind nicht die Regierungen. In der Demokratie können die Leute auch falsch wählen.“
Inacio de Loyola Brandao, einer von Brasiliens großen Schriftstellern, war einst Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, lebte für ein Jahr in Deutschland. Heute nennt er sich desiludido, exausto, desillusioniert und erschöpft. „Lula und seine Arbeiterpartei waren Hoffnungen – alles nur Lüge – eine mehr in der politischen Geschichte Brasiliens. Ich bin es müde, an den Ampelkreuzungen weiter von verelendeten Kindern, Menschen in Rollstühlen angebettelt zu werden. Kinder zu sehen, die Crack rauchen, sich in den Schulen umbringen. Und ich bin es müde, mich an einen Tisch zum Essen zu setzen – während durch die Scheiben hungrige Augen auf meinen Teller starren.“

Klaus | 13.01.05 02:47 | Permalink