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Fettes Brasilien

Amerikanisierung der Ernährungsgewohnheiten ließ den Prozentsatz der Dicken steil ansteigen
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Deutsche Brasilientouristen reklamieren immer häufiger frustriert:Jene wunderschönen, wohlgebauten sinnlichen Körper wie in der Tourismuswerbung gibts in der Realität zunehmend seltener. Dafür trifft man in Salvador da Bahia, Sao Paulo oder Rio inzwischen selbst auf Unmengen ganz junger Männer und Frauen mit regelrechten Wampen, aufgedunsen vom Fast Food.

Die Brasilianer inzwischen so dick, so fett wie die Europäer, mit höherem Cholesterinspiegel als die Nordamerikaner – solche Schlagzeilen lassen die Leute in Rio, Sao Paulo oder Salvador da Bahia derzeit perplex, verwirrt. Bei Magenverkleinerungen liege man hinter den USA bereits auf Platz zwei. Was ist geschehen, fragen sich viele – hatte Staatschef Lulas berühmtes Anti-Hunger-Programm in nur zwei Jahren etwa einen so fulminanten Erfolg, daß es sozusagen weit übers Ziel hinausschoß? Muß nun eine Sofortkampagne gegen Fettleibigkeit her? In dem von enormen Sozialkontrasten, Misere, Slums gezeichneten Tropenland ist darüber eine bizarre, skurrile Diskussion entbrannt, in die der dicke Lula jetzt persönlich eingreifen mußte. Schließlich hatte seine als seriös geltende staatliche Statistikbehörde IBGE für den Wirbel gesorgt, eine zweifelhafte Studie veröffentlicht, derzufolge etwa vierzig Prozent der Brasilianer teils stark übergewichtig sind. Fettleibigkeit sei das Problem, nicht Unterernährung. Die Studie sollte offenbar der heftigen Kritik an Staatschef Lulas Sozialpolitik, darunter dem Anti-Hunger-Programm, den Wind aus den Segeln nehmen. Immerhin hatte selbst Sao Paulos Kardinal Evaristo Arns erklärt, dieses Programm werde gar nicht wie angekündigt realisiert, Brasiliens Arbeiter bekämen unter Lula nur Hungerlöhne.
Doch kurioserweise erntet der Staatschef für die Kampagne „Fome Zero“(Null Hunger) beinahe alle paar Tage höchstes internationales Lob – ob von der Welternährungsorganisation FAO oder Politikern der EU. Zum Amtsantritt vor zwei Jahren hatte Lula den Kampf gegen den Hunger zur absoluten Priorität erklärt – rund fünfzig Millionen Brasilianer seien betroffen und würden deshalb in seiner vierjährigen Amtszeit staatliche Hilfen erhalten, die ihnen drei Mahlzeiten am Tag garantierten. Über sechs Millionen Familien, also mehr als zwanzig Millionen Brasilianer, bekommen nun bereits monatlich umgerechnet zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Euro, können sich dafür frei nach eigener Wahl Lebensmittel kaufen. Das Problem – mit vierzehn bis fünfundzwanzig Euro reicht es auch in Brasilien nur für die allerbilligsten, schlechtesten, nährstoffärmsten Lebensmittel, die den Hunger eher betäuben, als tatsächlich stillen. Aber eben nur zu oft dickmachen, aufschwemmen – durch zuviel Fett, zuviel Zucker, zuviel minderwertiges Mehl. Keiner weiß das besser als Ex-Gewerkschaftsführer Lula, der aus einer Hungerregion des stark unterentwickelten Nordostens stammt. Die neue offizielle Studie hat er deshalb aus gutem Grund nicht bejubelt, sondern zurückgewiesen, weil sie keineswegs die chronische Unterernährung im Lande dokumentiere. Er verhinderte damit weise ein politisches Eigentor. “Hunger läßt sich nicht durch solche Untersuchungen messen. Sämtliche Meinungsforschungsinstitute Brasiliens könnten durchaus zu dem Schluß kommen, daß alle Brasilianer zu essen haben, sich gut ernähren. Doch nicht jeder, der hungert, mag es zugeben. Die Leute haben Hemmungen, das zu sagen, schämen sich dafür. Sie sind doch keineswegs stolz darauf, Hunger zu erleiden, nicht die nötigen Kalorien und Proteine aufzunehmen.“
Lulas Sozialministerium räumte sogar überraschend ein, der Hunger im Lande sei weiter ein gravierendes Problem. Daß man Übergewichtige, Fettleibige paradoxerweise besonders in der Unterschicht, in den Slums antreffe, nicht unter den Bessergestellten, müsse eben differenziert gesehen werden. „Dick zu sein, heißt nicht, gut ernährt zu sein.“
Vor allem die katholische Kirche hatte die letzten Monate immer wieder bekräftigt: Unter Lula haben die Armut, das Elend zugenommen, sind die Durchschnittseinkommen deutlich gesunken, ist die Mittelschicht geschrumpft, wachsen die Slums immer rascher. Jene, die weniger verdienen, kaufen notgedrungen billigere, schlechtere Lebensmittel, weniger Obst und Gemüse. Zudem ereignete sich in Brasiliens Millionenstädten die letzten Jahre eine regelrechte Revolution der Ernährungsgewohnheiten – minderwertiges, billiges Fastfood ist auch dank massiver Werbung populär wie nie zuvor. Brasilianische Kinder und Erwachsene sitzen täglich viel länger vor der Glotze als Deutsche und stopfen dabei reichlich Dickmacher in sich hinein. Gemüse und Obst sind kurioserweise bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung regelrecht out. Selbst Mittelschichtsehen gehen auseinander, weil der intellektuelle Macho-Mann es gegen den Willen der Frau durchsetzt, daß sich der Sohn, die Tochter ganz nach eigenem Willen ausgerechnet in der Wachstumsphase fast nur von Salzgebäck und Cola-Light ernähren, entsprechende gesundheitliche Schäden davontragen. Und landauf, landab massenhaft Frustesser - gerade Slumbewohner, die besonders unter Spannung, Streß und Gewalt, Banditendiktatur leiden – immerhin ein Großteil der 185 Millionen Brasilianer. Entsprechend erschreckende Raten von Diabetes und Bluthochdruck.
„Armut macht fett“, lautet eine Studie, die biologische Hintergründe erklärt: Das Nervensystem eines unterernährten Kindes registriert inadequate Ernährung und aktiviert deshalb aus Gründen des Überlebens Mechanismen zur Fettspeicherung. Diese Programmierung aus der Kindheit währt fürs ganze Leben und führt zur Fettleibigkeit. Jeder aufmerksame Besucher brasilianischer Großstädte bemerkt, wie wenig sich die Leute bewegen, wie wenig man Sport treibt, weit weniger als früher. Und über achtzig Prozent der Brasilianer leben inzwischen in Städten, die so entsetzlich dichtgebaut sind, daß nicht nur in den Slums der Platz für Parks oder Sportanlagen schlichtweg fehlt. Das abstoßendste Beispiel bildet Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt. Die jetzt abgewählte elitäre Präfektin Marta Suplicy, Vizepräsidentin von Lulas Arbeiterpartei, hatte es während ihrer vierjährigen Amtszeit fertiggebracht, die von Umweltschützern und Medizinern seit langem geforderte Installation eines Radwegenetzes erfolgreich zu verhindern, dafür den privaten Autoverkehr aber kräftig zu fördern.

Klaus | 11.01.05 02:22 | Permalink