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"Volksentwaffnung" in Brasilien

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Zehntausende Brasilianer geben derzeit ihre Revolver und Gewehre ab, kassieren dafür vom Staat eine Prämie. Doch die Kampagne ist mehr als halbherzig - denn selbst die neofeudalen Banditenmilizen, Herrscher der Slums, bleiben hochgerüstet, sogar mit NATO-Waffen.

„Was soll ich noch mit den Schießeisen – in meinem Alter“, sagt die 89-jährige Zulmira de Oliveira und legt gleich drei silbrige Revolver, zwei der US-Marke Smith & Wesson, auf den kostbaren Furniertisch ihrer Luxuswohnung in Rios noblem Strandviertel Leblon. Die beiden Inspektoren der Zivilpolizei, Luis Quaresma und Andrè Camelo, schauen verdutzt – ein toller Fang! Für jeden Revolver bekommt Zulmira de Oliveira von der Regierung eine Prämie von umgerechnet achtundzwanzig Euro – in ganz Brasilien ist die Polizei derzeit total überlastet, die bis Dezember geplante Entwaffnungskampagne läuft unerwartet gut an. Selbst in Kirchen werden Sammelstellen eingerichtet.
Die Inspektoren preschen deshalb jetzt von morgens bis abends zu den Adressen von Leuten, die meist jedoch nur alte Revolver und Karabiner loswerden wollen. Falls eingeschmuggelt, illegal erworben – Straffreiheit ist garantiert. „Die Kampagne war längst überfällig“, so der dreißigjährige Camelo, „wegen der ausufernden Gewalt gab es die letzten Jahre eine Welle der Selbstbewaffnung – jedermann wollte unbedingt eine Knarre zuhause haben.“ In Lateinamerikas größter Demokratie, so betont auch die Kirche, herrscht de facto „Guerra nao-declarada“, unerklärter Bürgerkrieg. Jährlich werden immerhin über 45000 Menschen getötet, pro Tag weit über hundert – laut UNO-Angaben mehr als im Irakkrieg. Exakt 2276517 Kleinwaffen sind in Brasilien registriert. „Alle Waffenscheininhaber verloren jetzt per Gesetz ihre Lizenz – eine neue bekommt man nur schwer!“ Das Problem – tatsächlich sind über zwanzig Millionen Waffen aller Kaliber selbst laut amtlichen Schätzungen in Privat – bzw. Banditenhand. Ein mulmiges Gefühl, deshalb mit Quaresma und Camelo durch die Zehn-Millionen-Stadt zu brausen, weil hochbewaffnete Banditenmilizen des organisierten Verbrechens ihren Wagen attackieren könnten. Beide haben großkalibrige österreichische Glock-Pistolen auf dem Schoß, dazu die Maschinenpistolen griffbereit neben sich. Monatsverdienst – umgerechnet 280 Euro. „Ich wohne im Viertel Vila Isabel, von Slums umgeben“, sagt Inspektor Quaresma, „dort muß ich höllisch aufpassen, gehe nachts kaum aus dem Haus. Denn wenn mich Banditen überfallen, um mein Auto zu rauben, und dabei feststellen, daß ich Polizist bin, erschießen die mich sofort.“ Keineswegs übertrieben. Laut Statistik wird in Brasilien durchschnittlich alle siebzehn Stunden ein Beamter ermordet – etwa aus Rache für Personenkontrollen, Festnahmen, Verhaftungen. Das Risiko, wegen eines Polizistenmordes geschnappt zu werden, ist sehr gering – letztes Jahr wurden nicht einmal fünf Prozent aller Tötungsdelikte aufgeklärt. Regelmäßig trifft es auch Deutsche, Schweizer, Österreicher. Laut UNO-Angaben liegt die Wahrscheinlichkeit, daß ein Killer verurteilt wird und seine Strafe bis zum Schluß absitzt, in dem Tropenland bei nur einem einzigen Prozent. Straflosigkeit ist gewaltfördernd - ebenso wie die Rekordarbeitslosigkeit der letzten Jahre, Folge neoliberaler Politik in einem Land schärfster Sozialkontraste. In Rio de Janeiro attackieren die Banditenmilizen des global vernetzten organisierten Verbrechens selbst in der Innenstadt fast täglich Polizeiautos, fahren mit den Maschinenpistolen der Getöteten davon.
Quaresmas Viertel Vila Isabel liegt in der ärmlichen Nordzone – doch wir brausen in die Südzone, ins schicke Strandviertel Barra da Tijuca, das Miami der Mittel-und Oberschicht Brasiliens. Alle, die dort ihre Waffen loswerden wollen, leben in Condominios fechados – das sind Wohlhabendenghettos, von hohen Mauern umgeben, bereits an der Einfahrt bewaffnete Wächter, Kameras, Stacheldraht. Inspektor Quaresma ironisch:“ Hier braucht wirklich keiner ein Schießeisen.“ Philippe Mansur, bereits als Kind aus Ägypten mit den Eltern nach Brasilien eingewandert, übergibt einen Revolver, sieht die Regierungskampagne dennoch skeptisch: „Ich bezweifle, daß sie ihr Ziel erreicht. Normale Leute wie ich liefern ihre Waffen ab, aber die Banditen behalten sie – die muß man entwaffnen! Über zwanzig Millionen Waffen sind im Umlauf – doch die Regierung sagt, sie wäre schon glücklich, wenn zweihunderttausend Schießeisen abgegeben würden. Und der große Rest? Was passiert mit dem?“ An der Avenida das Americas werden im Morgengrauen neben einem Showpalast drei Jugendliche erschossen, gegen Mittag tötet eine verirrte Kugel den 67-jährigen Josias Tavares, als er in einem angrenzenden Park mit seinen drei Enkeln spielt. Tags zuvor hatten Jugendliche Rios mit des Vaters Revolver Roleta russa, Russisch Roulette gespielt – ein Fünfzehnjähriger starb. Alle paar Tage melden Brasiliens Medien Roleta-Russa-Opfer.
Eine große Slumregion der Nordzone Rios heißt Faixa da Gaza im Volksmund, Gazastreifen. Täglich Schießereien, Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenmilizen, oder zwischen Gangsterkommandos und der Polizei. Doch dorthin fahren wir nicht. Inspektor Camelo lacht bitter:“Niemand aus den Elendsvierteln gibt eine Waffe ab – schon wegen der Banditenherrschaft dort wagt das keiner. Alle sind doch den Banditenmilizen unterworfen – und die würden das nie zulassen. Die Slums sind deren Festung, da fühlen sie sich sicher. Rios Slumbewohner glauben nicht, daß wegen der Regierungskampagne die Verbrechensrate sinkt.“
Schauplatz Jacarezinho, ein Slum mit rund hunderttausend Bewohnern, mitten in der Faixa de Gaza. Omar Akbar, Direktor der renommierten deutschen Stiftung Bauhaus in Dessau, weiht dort an einem Juliabend das vierstöckige Medien-und Informationszentrum „Nucleus“ ein – kurz zuvor wird unweit davon der fünfjährige Eduardo dos Santos durch eine verirrte Kugel getötet, sein Großvater überlebt die Schußwunden. Direkt vor dem von Bauhaus entworfenen Nucleus stehen jugendliche Banditen, die Mpi lässig umgehängt, verkaufen direkt massenhaft harte Drogen. Sie sind Herren über Leben und Tod, halten ein neofeudales Schreckensregime aufrecht, verhängen sogar Ausgangssperren – Staat und Eliten schauen zu: Eine junge Frau von Jacarezinho wird verdächtigt, der Polizei Informationen zu liefern – man hackt sie in Stücke – eine andere Frau wird auf ähnliche Weise liquidiert. Erschreckend für intellektuelle Schöngeister aus Europa, mit sozialromantischen Ideen über Brasilien – völlig normal für Kinder, Erwachsene in Jacarezinho, alles soziokulturell verwurzelt. Die Slumbewohner sind Geiseln der Banditen – die brasilianischen Bauhaus-Mitarbeiter, die Stadtverwaltung müssen mit den neofeudalen Gangsterbossen verhandeln, brauchen deren Okay für sämtliche Projekte. Ein ethisch-moralisch sehr heikles Problem, auch für ausländische Sozial-NGOs. Brasiliens Banditenmilizen, Todesschwadronen feuern auch mit Heeres-Maschinengewehren nordamerikanischer, schweizerischer, deutscher Marken. Für Deutschland, so das Auswärtige Amt in Berlin, seien heute besonders die früher an Drittweltstaaten erteilten Produktionslizenzen ein Problem. Es sei unmöglich, den Handel mit diesen außerhalb Deutschlands hergestellten Waffen zu kontrollieren, die dann in Konflikten als vermeintlich deutsche Waffen auftauchen könnten.
„O Iraque è aqui“, der Irak ist hier, singt Brasiliens politischer Sambastar Jorge Aragao auf seiner neuesten CD, „das Volk hat Angst, das Ghetto brennt...“

Klaus | 08.12.04 19:22 | Permalink