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Rios Tanzstar Jaime Aroxa mit seinem Ensemble in den Tropical Islands von Brandenburg

Geschichte Brasiliens als modernes Ballett
Kurse für Paartanz und indianische Körperbemalung
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Wer hätte es gedacht - die frühere Cargolifter-Halle - größte freitragende des Erdballs - erlebt demnächst eine Weltpremiere. Achtzig Brasilianer, Brasilianerinnen tanzen im neuen Ambiente der Tropical Islands von Brandenburg - eine Autostunde von Berlin entfernt - erstmals die Geschichte ihres Landes, zeigen die Wurzeln brasilianischer Lebenslust und Sinnlichkeit, frei von den üblichen Klischees.

Keine der vielen durch Deutschland tourenden Folkloreshows mit Mulattinnen, sondern eher modernes Ballett, Ausdruckstanz der Spitzenklasse. Schließlich steht hinter dem ganzen Projekt der charismatische Choreograph Jaime Aroxa aus Rio de Janeiro, zudem bester, charmantester Tänzer lateinamerikanischer Rhythmen, zuhause eine Art Nationalidol – auf dem Höhepunkt der Lambadawelle flimmerte er auch über die deutschen Bildschirme. Ab Mitte November proben die Tänzer bereits in den Tropical Islands - die Show gibts mindestens drei Monate lang jeden Abend. Jaime Aroxa will die Deutschen stimulieren, sich wieder für den Paartanz zu begeistern, brasilianische Tanzschritte zu lernen – er hofft, daß von den Tropical Islands vielleicht eine kleine Sambawelle ausgeht. Denn Samba ist nun einmal viel interessanter, wilder, frecher als Salsa oder Tango.
„Ich zeige unsere ganze kulturelle Vielfalt – aber auch grausige Dinge, sehr Schmerzhaftes. Millionen von Indios, Millionen von schwarzen Sklaven wurden ausgerottet. Dazu interne Kriege, die zügellose Ausbeutung der Natur. Doch dann das Ende der Sklaverei, die Unabhängigkeit von Portugal, die neuen Freiheiten. Schwer zu erklären, daß es einem Volk mit einer so grausamen Geschichte, gravierenden aktuellen Problemen gelingt, so glücklich zu sein. Nach Brasilien kamen die verrücktesten Europäer, viele tanzbegeistert, viele Vagabunden. Die Sklaven brachten aus Afrika ihre ganze Kultur mit, extrem reich an Klängen, an Bewegung. Und dann unsere Indianer, die den Sex so lieben, das Meer, die Götter, die Urwaldnatur. Darunter Stämme von Kannibalen. Ich zeige das Zusammenleben dieser Rassen, die Vermischung – Musik und Tanz als Quellen unserer so typischen brasilianischen Lebenslust, dieses spontane Feuer in den Leuten. Alle leidenschaftlich in den verschiedensten Extremen. Unsere Euphorien, aufbrodelnden Glücksgefühle, die manchen Ausländern richtig Angst machen.“
Ein Riesenland, 24-mal größer als Deutschland, enorme regionale Unterschiede, Indios im Urwald, Sklavendörfer, Mozart-Menuette, Polka und Walzer tanzende deutsche Einwanderer. Das alles nur mit wohltrainierten Tanzprofis aus Rio darstellen?
“Ich bin durch ganz Brasilien gefahren, habe Tanztalente vom Amazonas geholt, aus den Savannen, dem Nordosten, aus dem deutschen Blumenau – ganz normale Leute darunter, ohne Gardemaße, ohne Bildung. Leute, die im heutigen Showbusiness dieser Welt keinerlei Chance hätten. Aber genau das wollte ich: Mich den Normen des Showbusiness verweigern, damit alles echt, authentisch, stark emotional wirkt, Seele hat. Brasilien zeigen, wie es wirklich ist, ohne Klischees. Unser Stück ist auch für die deutschen Kinder gedacht. Ich kritisiere, daß die brasilianische Regierung dieses Ballett nicht sponsert, nicht fördert – schließlich könnte es sozusagen als kulturelles Instrument dienen, um falsche Vorstellungen über Brasilien zu korrigieren.“
Dasitzen, schauen, staunen – und denken – schade, das möchte ich auch können? Jaime Aroxa will sein Publikum motivieren, brasilianischen Paartanz, diesen sinnlichen Dialog zwischen Frau und Mann zu erlernen.
„Wir geben vor unseren Auftritten natürlich auch Tanzkurse, wollen die Deutschen auf den Geschmack bringen, ihnen zeigen, wie wichtig und wie phantastisch Paartanzen ist. Die Welt muß doch wieder lernen, zusammmenzutanzen!“
Schwer zu übersehen - nirgendwo sonst auf der Erde wird so häufig, so lustvoll und sinnlich geschwooft, Haut an Haut, Wange an Wange, wie in Brasilien. Jaiminho kanns am besten, hat in seiner Tanzakademie Rio de Janeiros Maßstäbe für Qualität, Perfektion, Kreativität gesetzt.
Den Neulingen zeigt er beim Kursstart die beste Tanzposition von Dama und Cavalheiro. Er hält sie im Arm, jeder spürt Schenkel, Becken und Brust des anderen, beide schauen sich in die Augen. Nichts Neues für die Schüler, wie denn sonst. Nur so machts ja Spaß, ist es ein sinnliches Vergnügen, geht auch das Führen am einfachsten, ob bei Samba, Salsa, Bolero, Lambada, Tango oder Walzer. In Deutschlands Tanzschulen, auf Bällen halten die Partner meistens geradezu absurd großen Abstand voneinander, selbst wenn es deshalb für beide mühselig wird, die Schritte zu koordinieren.
Wochenendball in Aroxas Academia: Keine richtige schicke Bar wie in deutschen Tanzschulen, Getränke gibts an einem provisorischen Tapetentischchen, die Bier-oder Colabüchsen werden in großen blauen Plastikfässern mit Eisstückchen gekühlt. Unwichtig – das Publikum auf der Piste ist die Show, lenkt alle Blicke auf sich. Jaiminho war 1996 Monate in der Berliner Tanzszene, hat sich alles angesehen – seine Academia, sein Baile sind dagegen absolute Weltspitze; ein Genuß, den hundert und mehr Paaren bei ihren Drehern, Schlenkern, Pirouetten zuzusehen, alles ein Augen-und Ohrenschmaus, die Paartänzer in Berlin scheinen, verglichen damit, Bewegungsidioten. Wer in Aroxas Academia oder in den wunderschönen alten Tanzdielen Rios jemanden sympathisch findet, nähert sich höflich, legt gar der Dama an den Tischchen die Hand leicht auf die Schulter, fragt „Quer dancar?“ „Das hier ist wie wahrer Sozialismus“, meint Jaiminho, „hier gibts keine sozialen Klassen. Hier tanzt der Officeboy mit der Firmen-Finanzchefin, die mittags vornehm speist, während er auf einem Bänkchen irgendwas Billiges hineinschlingt. Aber hier ist der Officeboy Cavalheiro – und als guter Tänzer wird er in diesem Moment für sie, die Dama, viel wichtiger sein als das nervige Finanzressort. Tanzende gleichen Kindern mit nackter Seele, hat einmal jemand gesagt, ihre Bewegungen sind so kunstvolle wie unabsichtliche Offenbarungen der Sehnsucht oder der Erinnerung.
Brasilianer läßt besonders erschauern, daß man in europäischen Ländern wie Deutschland allen Ernstes Tanzen als muskelwachstumsfördernden Sport, sogar Leistungssport, mit Wettkampfdisziplinen wie Samba und Rumba, betreibt. Die Frauen gleichen dann aufgezogenen Puppen, mit künstlichem Dauerlächeln. Doch auch in Brasilien kopiert man längst den coolen, romantikfreien Disco-Stil der Ersten Welt, konsumiert dazu aus Europa importierte Ecstasy-Pillen. “Die Jugendlichen von heute haben ein sehr individualistisches Profil – alleine, ohne Partner zu tanzen, ist Ausdruck dieses Phänomens“, konstatiert der angesehene brasilianische Jugendspychiater David Lewinsky.
Aroxas Philosophie:“Mir gehts vor allem um Erziehung der Gefühle, nicht ums Eintrichtern möglichst raffinierter, spektakulärer Samba-oder Bolero-Schritte. Tanzen soll ein lustvoller, sensibler Dialog zwischen Dama und Cavalheiro sein, ist wie eine ganz besondere Sprache nur für zwei. Doch um sie sprechen zu können, muß man die Buchstaben, die Wörter lernen, Sätze formen können...“ Zehntausende von Brasilianern haben mit Jaime Kurse absolviert, sich immer wieder auf den Academia-Bailes köstlich ausgetobt. Auch einige Österreicher, Deutsche und Schweizer nahmen ein paar Privatstunden, begriffen damit so unendlich mehr von Rio, der Brasilidade, lernten interessante Leute kennen. „Als ich die Leute auf dem Schwoof tanzen sah, fühlte ich mich steif wie ein Bügelbrett“, erinnert sich eine Deutsche. Doch dann hat sie sich überwunden. Der deutsche Fußball-Bundestrainer Berti Vogts sieht ebenfalls in Rio Tanzenden zu, ist baff:“Im Vergleich dazu tanzt der Deutsche eben wie ein Kühlschrank.“ Man sieht, spürt es – alle aus Jaiminhos Universum leben seitdem intensiver, lieben anders, genießen anders, haben einen anderen Gang. Und strahlen all dies im Alltag, im Berufsleben aus, bilden im zunehmend von Gewalt, Gesetzlosigkeit, Elend und Umweltzerstörung gezeichneten Rio eine Art eiserner Reserve an positiver Energie. Auf die Politikerelite ist Jaiminho indessen nicht gut zu sprechen, weil sie die Kunst, auch seine des Tanzes, Bildung und Kultur geringschätze, marginalisiere:“Die Leute leben heute in einer total verwirrten Welt, in innerer Angst, Unruhe, Spannung – die persönlichen Probleme, die der Stadt, des Viertels nehmen zu; das Fernsehen überschüttet uns mit Gewalt und Terror – wir entmenschlichen uns, verwandeln uns, der Mensch wird Maschine. Doch Tanzen, als Paar, erleuchtet dich, hat etwas Spirituelles. Ich lehre die Frauen, im erotischen Sinne provocantes zu sein. Der Mann muß sich beim Tanzen als sexuelles Wesen fühlen, genauso wie die Frau. Wenn er zum Baile geht, sich innerlich, äußerlich vorbereitet, etwas Schönes anzieht, ein Parfüm benutzt, will er sich mit einer Frau treffen, ihr Lust und Vergnügen schenken. Das wird ihm Genuß. Salontanz erobert die Harmonie zwischen Mann und Frau zurück. Weißt du, was ich herausfand, in vielen Gesprächen? Die über Vierzigjährigen in meiner Academia sind sexuell dreifach aktiver geworden. Die Zahl der Mädchen, die hier ihre Jungfräulichkeit verloren, ihr Sexualleben begannen, ist direkt absurd hoch. Viele kommen deshalb, sogar von den Müttern geschickt, die unser Ambiente kennen und mögen. Natürlich muß dieser blödsinnige brasilianische Machismo gesprengt werden, wir trainieren das hier, stimulieren die Frauen, aktiver und fordernder zu sein. Und die Cavalheiros, nach dem Erlernen von echtem Körpergefühl , sich hinzugeben, sensibel und harmonisch zu führen, nicht zu diktieren.“ Für die Machistas hat er nur böse Ironie. Je größer der Männlichkeitswahn, umso größer die Chance, mit einem offeneren, sensiblen Mann betrogen zu werden. Aber woran erkennt man eigentlich die wirklich guten Tänzer, Jaiminho? „Wenn die Dama im Dialog mit dem Cavalheiro fühlt, daß es eine Lust, ein Genuß ist, Frau zu sein.“
Jaime Aroxa, Jahrgang 1961, stammt aus dem winzigen Zuckermühlen-Weiler Gamilera, in Pernambuco, weiter nördlich, im Teilstaate Maranhao tanzt man sogar Reggae eng zusammen. Beinahe jede Millionenstadt Brasiliens hat inzwischen Aroxa-Filialen – wären Brasiliens Kulturpolitiker nicht so entsetzlich engstirnig, unkreativ, hätte man Paartanz a la Aroxa längst zum Exportartikel machen können.
„In Berlin kann ich überall hingehen“, sagt Jaime, „hier nicht – fast überall in Rio muß ich höllisch aufpassen, gibt es keine Sicherheit, zu vielen Orten kann ich garnicht. Ginge ich auf einen Baile Funk, würde ich erschlagen. Ich denke bereits an Body-Guards, habe Angst, entführt zu werden.“ Seine Tochter ist auf der deutschen Schule, lernt Deutsch, er träumt von einer Academia-Filiale in Berlin.“Dieser Stadt fehlt Jaime Aroxa“, lacht er, ganz Latino, „meine Tanzschule wäre ein absoluter Erfolg, Brasilien könnte der Weltkultur unseren Paartanz geben.“ Doch leider werde der internationale Kulturaustausch von den USA dominiert, „Rap, HipHop, Baile-Funk – alles importiert.“ Immer im Sommer in Europa Tanzkurse geben, das wäre was, schwärmt er. Seine Kollegin Jeusa Vasconcelos aus Rio und ihr Schweizer Partner Eric Müller machens bereits erfolgreich– ausschließlich mit Tango. Ihre Kurse in Rio sind voll, die in Europa ebenfalls, das unzertrennliche Paar ist außerdem öfters in Buenos Aires, bemerkt Unterschiede:“Die Cariocas von Rio tanzen viel mehr als die Argentinier, am Rio de la Plata beherrscht keineswegs jedermann wenigstens die simpelsten Tangoschritte, auf einem Ball mit sechzig Paaren sind vielleicht drei wirklich gut. Dem Carioca steckt das Tanzen einfach mehr im Blut, er ist dafür weit begabter als der Argentino. Brasilianer sind begeisterungsfähiger.“ Samba gibt es in Buenos Aires nicht – der ist zu frech, zu lasziv, verführt zum Improvisieren. Beim argentinischen Tango dagegen können sich Europäer gut hinter Technik, Struktur und großer Geste verstecken, da fehlt das gefährlich Wilde, Ekstatische des schnellen Samba. Deutschlands Tanzkultur ist heute ebenso verkümmert wie die erotische, emanzipierte Frauen halten es häufig für ein Unding, sich vom Mann, vom Macho führen zu lassen, sich ihm beim Tanzen hinzugeben. Viele wollen sozusagen auf dem Parkett ihre Liaison kitten oder gar retten, ihre Probleme mit Körperkontakt und -gefühl lösen, klären aber vorher nicht eindeutig die Rollenfrage. Anstatt entspannt in seinen Armen zu genießen, konkurriert sie mit ihm um die Führung. Frauen rennen weg, halten den Tangokurs nicht aus, betonen ganz offen ihre Unfähigkeit, sich anzuschmiegen, sich umarmen zu lassen. „Wenn das den Damas nicht gelingt, wirds schwierig“, sagt Jeusa, „Zusammentanzen hat nichts mit Machismus zu tun, lächerlich!“
Eric und Jeusa indessen beobachten, daß europäische Männer nicht mehr authentisch agieren, zu lauen verlorenen Softies wurden, keine Courage mehr haben, Mann zu sein – und beim Tango deutlich und bestimmt zu führen. Denn anders funktionierts nun mal nicht. „Der Tanz bringt alles an die Öffentlichkeit, man kann nichts mehr verstecken – am allerwenigsten die Probleme mit dem Partner.“

Klaus | 07.12.04 20:51 | Permalink