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Lulas neuer Rechtsruck - Diktaturanhänger wird Verteidigungsminister

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Brasiliens Menschenrechtsorganisationen und die Kirche hatten es nicht für möglich gehalten: Auch nach dem Einzug des vielen als progressiv geltenden Ex-Gewerkschaftsführers Luis Inacio Lula da Silva in den Präsidentenpalast von Brasilia bleiben die geheimen Diktaturarchive geschlossen, können Verbrechen des Militärregimes, Schicksale von Verschwundenen immer noch nicht aufgeklärt werden. Und erstmals haben jetzt die Streitkräfte in einer offiziellen Note sogar die 21 Jahre währende Militärdiktatur als durchweg positiv und segensreich für das Land bewertet, die damaligen Repressionsmethoden gerechtfertigt. Vergangenheitsbewältigung gleich Null.

Verteidigungsminister Josè Viegas, ein Diplomat, trat deshalb zurück, kritisierte die weiterbestehende autoritäre Denkweise in den Streitkräften. Völlig überraschend übergab Staatschef Lula daraufhin Anfang November seinem Vize Josè Alencar das Verteidigungsressort – die Militärs sind begeistert. Alencar ist ein Milliardär und Großunternehmer, gehört zu einer rechtskonservativen, von einer Sekte dominierten Partei, war ein Diktaturanhänger, begrüßte den Militärputsch von 1964. Entsprechend bestürzt sind Brasiliens Menschenrechtler über Alencars Ernennung.
“Das ist extrem besorgniserregend, da Josè Alencar den Militärs nahesteht“, sagt Cecilia Coimbra, Präsidentin der angesehenen Menschenrechtsorganisation „Tortura nunca mais“ – nie mehr Folter. „In Alencars Liberaler Partei(PL) sind Politiker jener früheren Diktaturpartei Arena, die das Militärregime unterstützte. All das darf man nicht vergessen. Deshalb sind wir sehr beunruhigt. Die Regierung soll wissen, daß wir und die anderen Menschenrechtsorganisationen dazu nicht schweigen werden. Mit einer großen nationalen und internationalen Kampagne wollen wir jetzt erneut die Öffnung der geheimen Diktaturarchive fordern.“
--Verfolgung kirchlicher Diktaturgegner—
Brasilianische Zeitungen hatten vor kurzem Fotos aus diesen Archiven veröffentlicht, die einen gefolterten katholischen Priester nackt neben einer Ordensschwester zeigen – und damit den seit Jahren schwelenden Streit um die Aufklärung der Regimeverbrechen neu entfacht. Denn zu den perfidesten Repressionsmethoden gehörte, angesehene Diktaturgegner aus den Reihen der katholischen Kirche nicht nur einzusperren und zu foltern, sondern auch zu diskreditieren, einzuschüchtern: Immer wieder wurden engagierte Padres von der Geheimpolizei überwältigt und entführt, sogar in Stundenhotels gebracht und dazu gezwungen, sich dort zusammen mit Ordensschwestern nackt fotografieren zu lassen. 1976 wird selbst der als „Kommunist“ bezeichnete Bischof Adriano Hipolito an Rios Peripherie von den Repressionsorganen entführt. Zunächst wollen sie ihn zwingen, Zuckerrohrschnaps zu trinken – wohl um später einen Bischof im Zustand starker Betrunkenheit abfotografieren zu können. Doch Hipolito wehrt sich erfolgreich, wird geschlagen, völlig entkleidet, komplett mit roter Farbe beschmiert und in den Staub einer abgelegenen Straße geworfen.
Natürlich fordert jetzt auch die brasilianische Bischofskonferenz erneut die Öffnung der Militärarchive, wüßte gerne Genaueres über so viele Attacken auf ihre Amtsträger. Zudem würde die Nation erstmals detaillierter erfahren, wer damals die Diktaturgegner jagte, ermordete, auch auf Friedhöfen Sao Paulos in Massengräber für namenlose Verstorbene, darunter Bettler oder Verhungerte, werfen ließ. Aber die Militärs erklärten jedoch in ihrer aufsehenerregenden Note, auch über angebliche Todesfälle während der damaligen Operationen gebe es keinerlei beweiskräftige Dokumente, alle seien längst legal vernichtet worden. Doch selbst ein Ex-Agent der Repression erwiderte, daß Diktaturakten noch tonnenweise mitten in Brasilia, unweit des Präsidentenpalasts lagern.
Doch Lula will einen Konflikt mit der mächtigen Offizierskaste unbedingt vermeiden. Ausgerechnet auf einem Gala-Ball der Armeespitze versichert der heftig mittanzende Staatschef im Oktober daher besänftigend den besorgten Generälen, die Geheimarchive auf keinen Fall öffnen zu wollen. Denn nur vier Tage vor Lulas Amtsantritt hatte Vorgänger Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, per Dekret verfügt, daß „ultrageheime“ Dokumente und Fotos mindestens für die nächsten fünfzig Jahre unter Verschluß bleiben.
Im Präsidentenpalast widerspricht zumindest eine Person heftig Lulas pragmatischer Hinhaltetaktik - der weltbekannte Befreiungstheologe und Dominikaner Frei Betto, Lulas Berater für Hungerfragen. Den hatten die Diktatoren gefoltert und vier Jahre eingekerkert – der Dominikanerorden hatte sich besonders stark im Widerstand engagiert, wurde deshalb vom Militärregime entsprechend verfolgt.
“Seit neunzehn Jahren fordern wir von allen Regierungen, die geheimen Diktaturarchive zu öffnen“, so Cecilia Coimbra von Tortura nunca mais. „Doch unglücklicherweise sagt uns selbst die Lula-Regierung immer wieder, daß diese Archive nicht mehr existieren. Doch die neuen Fotos beweisen das Gegenteil. Eine Demokratie kann man nur aufbauen, wenn das Volk die wahre Geschichte seines Landes erfährt. Und dafür sind diese Archive fundamental, sie gehören der ganzen Gesellschaft. Das Offenlegen der Archive, heißt es immer, sei ein Risiko für die Demokratie. Wir sehen es umgekehrt – wenn die Archive geschlossen bleiben, erleidet die Demokratie Risiken. Jene autoritäre, aggressive Note der Streitkräfte hat uns an die Zeit der Militärdiktatur erinnert. Wenn es in diesem Land ein wenig seriöser zuginge, hätte man die Verfasser zumindest in die Reserve versetzt.“
Cecilia Coimbra war in den siebziger Jahren ebenfalls von der Militärpolizei verhaftet und gefoltert worden. Rund zwei Jahre nach Staatschef Lulas Amtsantritt kritisiert sie, daß Relikte der Diktaturzeit, wie die Militärpolizei und die Folter, weiterexistieren. Mittelalterliche Torturen in Polizeiwachen und Gefängnissen, so betonen auch kirchliche Menschenrechtler, seien nach wie vor die Regel, und nicht die Ausnahme. Folter werde von den Behörden toleriert, treffe vor allem die Armen der Unterschicht.
--Lulas Bündnisse mit Rechten—
“Es ist beklagenswert, daß die Regierung politische Bündnisse mit Unterstützern der Diktatur geschlossen hat. Für uns sehr merkwürdig, da zur Regierung ja auch Leute gehören, die damals verfolgt und gefoltert wurden, ins Exil gehen mußten.“
Und dann trifft Cecilia Coimbra eine hochinteressante Aussage:“Als man mit diesen Bündnissen begann, war klar, welchen politischen Kurs die Lula-Regierung einschlagen würde.“ Auch Deutschlands Lula-Fanclubs, große Teile der deutschen Medien unterschlugen schlichtweg die Rolle von zwielichtigen Figuren wie Lulas Vize Josè Alencar, betrieben übelste Personalisierung der Politik, eine bekannte und sehr beliebte Manipulationsmethode. Alencar wurde so gut wie kaum erwähnt, seine Rolle in der brasilianischen Wirtschafts, die Beziehungen zu stockreaktionären Militärs gleich gar nicht. Alencars Textilkonzern Coteminas exportiert dank Billigstlöhnen, Sozialdumping immer kräftiger in die Erste Welt, zahlt an die meisten Beschäftigten monatlich umgerechnet nur etwa siebzig Euro, liefert der Armee Uniformen.
--„Brasilias Menschenrechtspolitik ist eine Schande“—
Seit Alencar Lulas Vize ist, stiegen die Coteminas-Aktien kräftig, wurde der Konzern gar „Unternehmen des Jahres 2004“. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2002 wurde Alencar von Gewerkschaftern als übler Ausbeuter und Menschenschinder bezeichnet. Wie seinerzeit schloß Lulas Arbeiterpartei auch bei den jüngsten Kommunalwahlen wieder Bündnisse mit Rechtsparteien, deren korrupteste Vertreter Jahre zuvor noch bei jeder Gelegenheit heftig attackiert worden waren. Mit Alencar als Verteidigungsminister wird es für Organisationen wie Tortura nunca mais keineswegs leichter, Fortschritte bei den Bürgerrechten zu erreichen. „Die Menschenrechtspolitik dieser Regierung ist eine Schande“, betont Cecilia Coimbra.
Die Therapeutin Guanaira Rodrigues de Amaral aus dem Nordost-Teilstaat Pernambuco betreut seit über zwanzig Jahren Folteropfer – während der Diktatur wurden Familienangehörige verhaftet, schwer mißhandelt, einer überlebte die Torturen nicht. „Arme können heutezutage jederzeit, in jedem Moment gefoltert werden. Folteropfer aus der Unterschicht haben niemanden, den sie um Hilfe bitten könnten. Für sie gibt es keine Unterstützergruppen. Diese Leute sterben jeden Tag ein bißchen mehr.“

Klaus | 08.11.04 21:34 | Permalink