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Brasiliens Präsidentenberater Frei Betto kritisiert Regierungspolitik
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Der bekannte brasilianische Befreiungstheologe und derzeitige Berater von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, Frei Betto, hat der Regierung unsoziale Politik gegen die arme Bevölkerungsmehrheit vorgeworfen. Am Dienstag, dem Tag des "kontinentalen Aufschreis" der sozial Ausgeschlossenen Lateinamerikas, schrieb er in Brasiliens größter Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo", der Staat agiere seit Kolonialzeiten zugunsten der reichsten Bevölkerungsschichten, wende indessen gegen die Masse der gesellschaftlich ausgegrenzten Armen "stille Gewalt" an.
Durch wirtschaftliche Maßnahmen würden Millionen von Menschen zunehmend Einkommen, Arbeit, Land und selbst essentiell wichtige Verbrauchsgüter entzogen, mache man ihnen sogar das Überleben unmöglich. "Den Verarmten bleibt nichts weiter übrig, als in provisorischen Camps auf dem Lande oder in Stadtslums zu hausen - ohne Recht auf Gesundheit,
Bildung und Information." Die stille Gewalt des Staates werde durch Gesetze weder gestützt noch verurteilt, jedoch mit den derzeitigen sozialen Strukturen und den Paradigmen der Marktwirtschaft legitimiert. "Und somit wird daher das Wachstum einer Nation nur an der Zunahme des
Bruttosozialprodukts gemessen - nicht aber an der Lebensqualität der Bevölkerung oder einer höheren Kaufkraft der Arbeiter."
Auch in den neoliberalen deutschen Kommerzmedien erhält die Lula-Regierung derzeit größtes Lob wegen Wirtschaftswachstum, Primärüberschuß, zunehmenden Exporten – wie üblich werden indessen Reallohnverluste und Slumwachstum unter Lula unterschlagen. Das durchschnittliche Arbeitereinkommen in der zwölftgrößten Wirtschaftsnation liegt derzeit selbst laut offiziellen Angaben nur bei umgerechnet rund 260 Euro.
„Wesentliches Charakteristikum des kapitalistischen Systems ist, einige wenige reich zu machen – auf Kosten der Armut vieler – vor allem in der jetzigen neoliberalen Phase, wo Finanzspekulation gegenüber produktiven Investitionen überwiegt.“
Brasilien, so der Dominikaner Frei Betto weiter, fehle eine Strategie für nachhaltiges Wachstum. Die Politik erniedrige sich selbst, wenn sie Utopien aufgebe. "Notwendig ist ein Staat, der auf die stille Gewalt verzichtet und den Kampf gegen die Ungleichheit als Priorität setzt - selbst wenn dies den Besitzern von Geld und Macht mißfällt." Folge jener Art von Gewalt sei auch
das jüngste Massaker an Obdachlosen in Sao Paulo, bei dem unbekannte Täter in der City unweit von Banken und Geschäftshäusern sieben schlafende Wohnungslose erschlagen hatten.
Die lateinamerikanische Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, zudem eigentliche Hauptstadt Brasiliens, wird von der Elite-nahen Präfektin Marta Suplicy aus Lulas rechssozialdemokratischer Arbeiterpartei(PT) regiert – nach bisherigen Wahlvorhersagen wird sie bei den Stichwahlen Ende Oktober gegen ihren Herausforderer Josè Serra von der konservativen „Sozialdemokratischen Partei“(PSDB) des Lula-Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso, unterliegen. Marta Suplicy ist Vizechefin der Arbeiterpartei.
--„Speichelleckerei, Prinzipienverrat, Inkompetenz“—
Anfang 2004 hatte Frei Betto bereits in der „Folha de Sao Paulo“ beschrieben, wie in Brasilia derzeit Politik gemacht wird: Speichelleckerei, Inkompetenz, Prinzipienverrat, Effekthascherei, gröbste Lügen, Krokodilstränen, Wiederholung alter politischer Sünden. Irritationen über eingeforderte Wahlversprechen und Kritik. In die Politik steige man ein „ohne Prüfung der Kompetenz, fordert man kein Attest moralischer Integrität – in dieser Suppe der Gewählten vermischen sich Ehrliche und Gerissene, Rechtschaffene und Korrupte.“
Frei Betto kennt wie Luiz Bassegio, Koordinator des „kontinentalen Aufschreis, Lula bereits aus der Diktaturzeit, den Metallarbeiterstreiks sehr gut. Kurz bevor er mit Lula in den Präsidentenpalast einzog, hatte er diesem öffentlich einige Warnungen mit auf den Weg gegeben: Gewählte „Hoffnungsträger“ lateinamerikanischer Länder liefen stets Gefahr, „machtbesoffen“ zu werden, den Kontakt mit der Basis zu verlieren, sich mit Speichelleckern zu umgeben, die Fähigkeit zur Selbstkritik zu verlieren, Privilegien und Luxus zu genießen, während es der Bevölkerung am nötigsten fehle. Nach wenigen Monaten bereits mußte Frei Betto erfahren, daß Lula ausgerechnet im Sozialbereich sparte, die Massenarbeitslosigkeit weiter ankurbelte, sich dem Establishment anbiederte, archaischen politischen Praktiken frönte. Mit gewisser Bitternis erklärte er darauf den Leuten:“Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht.“
--Frei Betto und Fidel Castro—
Zu einer besonders delikaten Aufgabe Frei Bettos wurde Lulas Visite im September 2003 bei Fidel Castro, mit dem der Dominikaner noch enger als Lula selbst befreundet ist. Washington hatte Lula offiziell aufgefordert, während des Besuchs öffentlich die Menschenrechtspolitik der Castro-Regierung zu kritisieren – wozu es jedoch nicht kam. Frei Betto vermittelte vielmehr ein Gespräch Lulas mit dem Kardinal von Havanna, der dabei eingeräumt habe, daß die fünfundsiebzig in jüngster Zeit zu Gefängnisstrafen verurteilten Castro-Gegner in eine Konspiration gegen die kubanische Regierung verwickelt gewesen und von der US-Vertretung in Havanna entsprechend beeinflußt worden seien. „Wenn Cuba so fürchterlich ist – warum fahren dann dorthin mehr Touristen als nach Brasilien?“, sagt Frei Betto, der mehrere europäische Menschenrechtspreise erhalten hat.
Als in Lulas erstem Amtsjahr Führer der Landlosenbewegung (MST) wie Josè Rainha, Diolinda da Silva und Mineirinho eingekerkert wurden, stellte sie Frei Betto in eine Reihe mit wegen ihrer Überzeugung verfolgten Persönlichkeiten der Geschichte, wie Galileo, Edith Stein, Gandhi und Martin Luther King. „Verurteilt werden Landlosenführer, die sich für elementare Rechte einsetzen, obwohl doch das Großgrundbesitzertum auf der Anklagebank sitzen müßte. Ich danke Gott für die Existenz des MST. Eigentum, das gemäß kirchlicher Doktrin nicht seine soziale Funktion erfüllt, ist kriminell – das Recht auf Leben steht höher als Eigentumsrecht.“
Klaus | 12.10.04 17:28 | Permalink