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Chico Buarque - größter Songpoet Brasiliens

"wichtigster brasilianischer Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts"
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Beinahe jeden Tag joggt er am Strand seines Rio-Stadtteils Leblon entlang, entgeht damit auch lästigen Autogrammjägern. Bevor es die meisten Flanierer, Badegäste kapieren, ist er schon von dannen. Hat man sich so einen Sechzigjährigen vorgestellt - so rundum fit, braungebrannt, nach wie vor von Frauen, selbst ganz jungen, vergöttert?

Chico Buarque gilt als der größte, genialste Songpoet des Tropenlandes, wird wie ein Nationalheld verehrt, obwohl er schon längst keine Hitparaden mehr erstürmt. Im Kulturleben der größten lateinamerikanischen Nation ist er nach wie vor enorm präsent. Sein dritter Roman, Budapest“, ist derzeit ein Bestseller, sein zweiter, „Benjamin“, als gleichnamige Verfilmung landesweit in den Kinos. Und seine „Opera do Malandro“, Gauneroper, ein spritziges, doch auch sozialkritisches Musical von 1978, läuft seit einem Jahr in Rio vor ausverkauftem Hause, ist immer noch aktuell. Zu seinen Sambas schwooft die Nation in den Tanzdielen. Und selbst Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester, dirigiert von John Neschling in Sao Paulo, hat natürlich Stücke im Repertoire.
„Chico Buarques Bedeutung für die brasilianische Kultur ist unschätzbar hoch“, betont Kulturminister Gilberto Gil zum Sechzigsten in einer Würdigung, „er war für mich fundamental – für meine musikalische Entwicklung, meine Geschmacksbildung, hat den Wettbewerb unter uns Künstlern immer in einer sehr gesunden Weise stimuliert.“
Wer in Brasilien Chico Buarques „Songbook“ erwirbt, bekommt vier dicke Bücher mit 222 Texten und Partituren – dazu acht CDs, auf denen nicht weniger als 105 Sängerinnen und Sänger der Musica Popular Brasileira 112 Kompositionen Chico Buarques interpretieren. Alles, was Rang und Namen hat in der Szene, macht mit: Gilberto Gil, Maria Bethania, Tom Zè, Gal Costa, Nana Caymmi, Ed Motta, Zeca Pagodinho, Rita Lee, Caetano Veloso.
Chico Buarque wird 1944 in Rio geboren, wächst aber in Sao Paulo und Italien auf, bricht wegen der Musik schließlich ein Architekturstudium ab, steht 1964 - Jahr des Militärputschs - erstmals als Musiker auf der Bühne, hat 1966 mit dem poetischen Lied „A Banda“ (Die Kapelle) seinen nationalen – und internationalen Durchbruch. In Deutschland wird daraus ein Schlager mit Latino-Klischees, ein Karnevalsmarsch über eine Mexikanerin namens Rosita, „mit Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen“. Er kann sich auch nicht dagegen wehren, daß das Diktaturregime „A Banda“ sogar im Fernsehen zur Rekrutenwerbung benutzt – sein Vater immerhin ein landesweit bekannter linker Intellektueller, Gründer der Arbeiterpartei PT, deren Führung erst in den letzten Jahren nach rechts abdriftete, sozialdemokratisch wurde.
--Meistverboten, meistzensiert—
Ab 1969 geht Chico Buarque für zwei Jahre ins Exil nach Italien, sein „Apesar de voce“ wird nach der Rückkehr zur Anti-Diktatur-Hymne. Mit Gilberto Gil schreibt er das Protestlied „Càlice“ - prompt verboten. Gil und Buarque versuchen es 1973 dennoch bei einem Konzert zu singen, doch die deutsche Polygram, so ist überliefert, läßt hektisch die Mikrophone ausschalten, befürchtet Regime-Repressalien. Chico Buarque ist der meistverbotene, meistzensierte Künstler Brasiliens, bis heute eine Symbolfigur des Widerstands gegen die einundzwanzig Jahre währende Miltitärdiktatur. Trickst die Zensoren eine Weile aus, indem er sich hinter der Figur des erfundenen Julinho da Adelaide versteckt, der sogar Zeitungsinterviews gibt, mit Fotos erscheint, Chico Buarque schlechtmacht. Was Julinho da Adelaide an Doppelsinnigem einreicht, lassen die Aufpasser durchgehen. Wird Chico Buarque verhaftet, bitten ihn die Beamten der politischen Polizei um Autogramme. Er organisiert den Kulturaustausch mit Kuba, nennt den Inselstaat ein Beispiel, das Brasilien nicht kopieren, dem es aber folgen sollte, hat hohe Wertschätzung für Fidel Castro. Beteiligt sich nach dem Ende der Diktatur an der Anti-Hunger-Kampagne, an Aktionen der Landlosenbewegung.
--Symbol kulturellen Widerstands—
Jetzt, zum Sechzigsten, würdigen die Kritiker Chico Buarque auch als Symbol kulturellen Widerstands bis in unsere Tage – gegen die Korruption im Musikbusiness, die Überschwemmung des Marktes mit Wegwerf-Pop, allgemeine kulturelle Verflachung, gegen kurzlebige, künstliche Trends und Moden. Denen hat sich Chico Buarque schon immer verwehrt. Ein interessantes Detail: In den sechziger Jahren buhten ihn die Fans von Gilberto Gil und Caetano Veloso bei Musikfestivals aus, schrien ihm in Sprechchoren entgegen, daß er völlig überholt, out sei, weil er immer noch Sambas spiele. Während Gil und Veloso bereits die Rockgitarre schwangen, sich anglo-amerikanischen Trends anpaßten. Einen Sprechchor gegen Chico Buarque dirigierte Gilberto Gil damals sogar persönlich. Der Sänger beobachtete es oben von der Bühne mit Verdruß, prangerte Gils Verhalten in einem Zeitungsartikel an. Jetzt, als Kulturminister, will Gilberto Gil den Samba als Musik und Tanz von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklären lassen. Die besten, intelligentesten Sambakompositionen Brasiliens, mit dem poetischsten Texten, auch die mit der ätzendsten Sozialkritik, dürften von Chico Buarque sein.
Ein brasilianisches Nachrichtenmagazin läßt durch eine Expertenjury und Umfragen den wichtigsten nationalen Musiker des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts ermitteln - Chico Buarque liegt mit 76,5 Prozent sogar vor dem bereits verstorbenen Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim(Girl from Ipanema) und deutlich vor dem 62 –jährigen Caetano Veloso, der auf 56,6 Prozent kommt. Der Perfektionist Chico Buarque hat ästhetische, stilistische Maßstäbe gesetzt – wer heute mit dessen CDs in die Musica Popular Brasileira einsteigt, erkennt mühelos, was dort wirklich etwas taugt und was man getrost vergessen kann. „ Wegen Chico Buarque bemerken wir unsere eigene Unvollkommenheit“, sagt Chico Cesar, der mit dem Hit „Mama Africa“, „immer wenn wir uns als die Größten fühlen, reicht es, an Chico Buarques Musik zu denken – und schon ist es mit unseren Eitelkeiten, intellektuell-moralischen Anwandlungen vorbei.“
--Frauenversteher—
Lieder mit drastischen, sinnlichen Bett-, überhaupt Liebeszenen – keiner hat womöglich davon so schöne im Repertoire wie Chico Buarque. Niemand, heißt es immer wieder, habe die schwierigen, widersprüchlichen, komplexen Beziehungen zwischen Frau und Mann sensibler beschrieben, besungen als er, könne sich in die weibliche Psyche hineindenken, hineinfühlen wie kein anderer Künstler. Frauen würdigen ihn daher zum Sechzigsten am überschwenglichsten:“Welche Brasilianerin hat denn nicht geliebt und gelitten, sich von schwersten Enttäuschungen erholt – und dabei Lieder von Chico Buarque gehört und gesungen?“, schreibt die Kulturkolumnistin Danuza Leao aus Rio. Eine Unzahl brasilianischer Sängerinnen nahm deshalb auch Chico-Buarque-Lieder auf, teils ganze CDs, drängelt sich danach, Duette mit ihm herauszubringen.
Hat Chico Buarque eine spezielle Beziehung zu Deutschland, zu Berlin? Durchaus. Hier sucht er immer noch nach seinem Halbbruder – Frucht einer kurzen, heftigen, leidenschaftlichen Beziehung seines Vaters mit einer Deutschen.
--Chico und Lula—
Lula-Vorgänger Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, nannte während seiner achtjährigen Amtszeit Chico Buarque, dessen Musik rückwärtsgewandt, überholt, lobte dafür Caetano Veloso und Gilberto Gil. Die hatten Cardoso ja auch im Wahlkampf von 1994 kräftig unterstützt, zusammen mit Jorge Amado, Tom Jobim, den Filmemachern Hector Babenco und Bruno Barreto sogar ein Wahlmanifest unterschrieben. Später schwiegen sie zu den verheerenden Resultaten der Menschenrechts-und Sozialpolitik von Cardoso. Veloso und Gil gelten vielen Brasilianern nicht zufällig als fragwürdige Opportunisten. Fotos, Fakten sprechen Bände: Deutschlands progressiven Liedermachern würde schwer verübelt, wenn sie enge freundschaftliche Kontakte zu Führungsleuten von DVU, NPD oder Republikanern pflegen würden. Veloso und Gil, aber auch bekannte Sängerinnen wie Ivete Sangalo und Gal Costa haben mit Rechten keinerlei Berührungsprobleme – Beispiel Antonio Carlos Magalhaes aus Bahia, gerissener, berüchtigter Diktaturaktivist, starker Mann, Senator der großen Rechtspartei PFL, welcher bei jeder Gelegenheit die Militärdiktatur lobt. Deren Erbe sich immerhin bis heute auch in Todesschwadronen, Massenfolterungen, Blutbändern manifestiert. Kein Grund, deshalb etwa zu üblen Figuren wie Magalhaes auf Distanz zu gehen, ganz im Gegenteil: Man trifft sich privat, hat ihn gerne bei Familienfesten dabei. Fotos zeigen Veloso neben Magalhaes bei einem Geburtstagsgottesdienst, beide reichen sich lange die Hände – Axè-Pop-Sängerin Ivete Sangalo spielt mit Magalhaes sogar den Trauzeugen bei anderen Popstars von Bahia. Jorge Amados Witwe, die gelegentlich als „Kommunistin“ bezeichnete Schriftstellerin Zelia Gattai, und Gal Costa, statteten Magalhaes sogar einen Solidaritätsbesuch ab, als er wegen eines weiteren Skandals um Machtmißbrauch politisch unter Druck stand. Loben ihn als „Vater Bahias, großen Führer der brasilianischen Politik“. Chico Buarque dürfte sich da wohl der Magen herumdrehen. Er stand schließlich stets zur linken Opposition, unterstützte den Kandidaten Lula, kritisierte stets Cardosos Neoliberalismus – und Gils Lob für diesen Politiker. In keinem lateinamerikanischen Land sind schließlich die sozialen Unterschiede krasser, ungerechter, absurder. Und die Eliten? „Kulturloser, ungebildeter als je zuvor“, sagt er.“Die Geldleute sind kulturell viel desinteressierter als vor dreißig Jahren.“ Über Lulas Politik ist er heute enttäuscht, unzufrieden – denn der kooperiert wie Vorgänger Cardoso unerwartet eng mit übelsten Diktaturaktivisten wie Magalhaes und sogar Josè Sarney, Ex-Chef der Diktaturpartei ARENA.
Und der Musiker Chico Buarque privat? Der Compositor, Cantor, Artista mit den schieferblauen Augen, brasilianischem Charme, Charisma sieht blendend aus, durchtrainiert vom regelmäßigen Fußballspielen mit seiner eigenen Mannschaft. Drei Töchter hat er, eine davon ist mit dem schwarzen Musiker Carlinhos Brown aus Bahia liiert, hat mit ihm zwei Kinder. Dreißig Jahre bildet Chico Buarque mit der großen Schauspielerin Marieta Severo das romantische Traumpaar der Nation, noch dazu ohne Trauschein, sozusagen leuchtendes, anspornendes Beispiel im brasilianischen Meer heftigster Beziehungskrisen. Als sich das Traumpaar trennt - ob nun wegen behaupteten Seitensprüngen Chico Buarques oder nicht - ist die Nation entsetzt, mit ihren Paartherapeuten wollen die Klienten erstmal nur darüber diskutieren. Er lebt heute superdiskret im Rio-Stadtteil Leblon – wann, fragt die Nation, gibt er endlich mal wieder ein Konzert?

Klaus | 15.10.04 02:44 | Permalink