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Montagsdemos

Nun gellen mir schon die Ohren von den empörten Ordnungsrufen der Tugendwächter des freiheitlichen Geistes der DDR-Montagsdemos: So, wie Clement und seine geschätzten Hartz-IV-Adepten von der CDU in großer Koalition empört das heilige Gedenken an vergangenes revolutionäres Erbe vor zeitgenössischer Einvernahme durch den andersdenkenden Pöbel auf der Straße verteidigen, fühlt man sich zwangsläufig an das Geschrei der SED-Politbürokraten und einiger Blockpartei-Kopflanger angesichts vermeintlichen Missbrauchs ihrer bestandsgeschützten Liebknecht-Luxemburg-Demo durch allerlei Andersdenkende erinnert.

Und jene Störer hätten in Wirklichkeit natürlich nur die politische Provokation derer im Sinn gehabt, welche in historischer Mission unterwegs waren. Der Missbrauchsvorwurf wurde wiederholt, als dann „das Volk“ auf die Straße ging, „verführt“ durch eben jene Sorte von Provokateuren, die ihre politische Suppe auf dem Feuer der Empörung uneinsichtiger Werktätiger über einige leidige vorübergehende Misslichkeiten kochten. Dabei arbeiteten die Regierenden doch unentwegt für das Wohl dieses verführten Volkes, dem nach einsichtsvoll ertragenen Entbehrungen der Aufstieg (damals noch der Sieg des Sozialismus – heute bescheidener ein haltbarer Billiglohn) winkt.

Doch genug von diesen sarkastischen Analogien – die Geschichte wiederholt sich niemals und der Versuch kurzschlüssiger Gleichsetzungen fördert höchstens die Qualität solchen Vergleichs als Farce zutage. Damals in der DDR riskierte man bis Mitte Oktober 1989 auf Demos seine berufliche, soziale und – das wusste keiner – womöglich seine physische Existenz. Heute sind für Hunderttausende die soziale Sicherheit und berufliche Existenz ganz ohne jedes Zutun bereits im Eimer, aber niemand ist in seiner physischen Existenz, sehr viele jedoch hinsichtlich ihres Lebensstandards bedroht. Allerdings ging es in der DDR nicht „nur“ um politische Freiheiten: Jeder sah auch, dass die Wirtschafts- und Systemkrise entgegen den Verheißungen der Politbürokratie die soziale Sicherheit und den Lebensstandard gefährdete. Hintergründig ging es jedoch tatsächlich um die Macht und damit gleich um das System: Dieses politische System überlebte keine andauernden Massendemonstrationen und wenn eine gewaltsame Lösung a la 17. Juni oder Platz des Himmlischen Friedens obsolet geworden war, dann war es auch das Ende. Heute ist durch solche Demonstrationen noch keineswegs die Systemfrage gestellt. Was damals in der DDR das System erschütterte, erschüttert heute nur noch die SPD. Ordentliche Massenumzüge werden gleichsam als Gütesiegel der Stabilität eines Systems gehandelt, in dem die Herrschenden mittels der jeweils Regierenden über allerlei kluge Kurskorrekturen weiter ungestört ihren Geschäften nachgehen können (Warum also die Aufregung, liebe Tugendwächter?) Heute stürzen über andauernden Massendemonstrationen bestenfalls noch Regierungen, aber immerhin. Doch was kommt danach? Das war die Frage damals auch in der DDR und die war ehedem von einem Gewicht ganz anderer Art, als heute. Die Antwort wurde damals durch „das Volk“ gegeben und wenn „das Volk“ jetzt auf der Straße kundtut, dass es gelernt hat, was diese Entscheidung heute tatsächlich wert ist, sollte sich die Empörung darüber in der großen Koalition der Reformmaschinisten ebenso in Grenzen halten, wie die Euphorie der Berufsrevolutionäre bei ihren Vergleichen mit der Herbstrevolution.

Was also spielt sich ab? Die SPD wird am bevorstehenden Misserfolg ihrer millionenschweren Volksaufklärungskampagne über die Segnungen von Hartz IV gelernt haben, dass keinesfalls ein „Vermittlungsproblem“ besteht, sondern dass die Betroffenen schon viel früher nur zu gut verstanden haben: Deshalb sind sie jetzt auf der Straße. Die auf der Straße werden begreifen, dass es der SPD zwar angemessen erscheint, auf dem Rücken der Arbeitslosen die Staatskassen zu entlasten, es ihnen aber eigentlich nicht um deren Knechtung, sondern um den Konsens der großen Koalition von Globalisierungsstrategen in der politischen Klasse geht: Auch über die Sozialgesetzgebung soll der Druck auf Löhne und Tarife, die Arbeitszeit, die Verfügbarkeit, das Normalarbeitsverhältnis usw. derart gesteigert werden, dass im internationalen Wettbewerb die Unternehmensgewinne weiter wachsen können. Dann kann der dankbare Malocher auch mit Billiglöhnen statt Stütze leben: Auf diese Weise nützt das Unternehmenswohl auch ihm. Die Phraseologie der „höheren Eigenverantwortung“ für Alters- und Gesundheitsvorsorge, die Berufung auf „schlechte Wirtschaftslage“ und „Alterspyramide“ usw. verbrämen den Sozialabbau als Sachzwang und kaschieren die eigentlich verfolgte wirtschaftliche Zielstellung zum Zwecke der Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz: Nicht Absicht der Befreiung von Unternehmen von „sozialromantischem Ballast“ zugunsten ihrer Gewinnaussichten wird eingestanden, sondern die Befreiung des Sozialstaats von ungebührlicher Alimentierung der arbeitslosen Reservearmee und von zu viel Bürokratie wird verherrlicht. Die Arbeitslosen und immer prekärer Beschäftigten sitzen mit den Sozialhilfeempfängern im gleichen Boot.

Eigentlich nichts Neues. Das hat sich in den verschiedensten Varianten schon immer abgespielt; manchmal kam´s dicker, dann weniger dick usw. Manchmal haben die dort oben zu sehr überzogen und die Normen zu scharf erhöht und wenn man dann gleichzeitig die Lebensressourcen verknappte, konnte es schon mal einen 17. Juni geben. Daraus lernen die da oben in der Regel, aber ohne diesen 17. Juni hätten sie nichts gelernt. Auch wenn heute anders als damals nicht gleich das System wackelt, wenn die Leute demonstrieren, könnte Hartz IV kippen, was aus den erwähnten Gründen auch denen nutzt, die heute noch Arbeit haben. Und das darf keine „Ostveranstaltung“ werden, denn auch im Westen müssen die Leute auf die Straße, weil das sonst aussichtslos ist. Meinetwegen soll sich, wer will, auf die DDR-Montagsdemos berufen, doch eigentlich lenkt das nur ab. Wir leben in ganz anderen Zeiten, als 1989. Doch die Erinnerung daran ist trotzdem hilfreich: Man erinnert sich, dass sich etwas bewegt, wenn man sich rührt. Das einzige, was heute nun wirklich an damals erinnert, ist die maßlose Arroganz der Regierenden und ihrer heutigen Blockflöten sowie der Opportunismus im Bemühen um Systemverherrlichung, worin ehemalige Revolutionäre zur Zeit sogar die heute Regierenden übertreffen. Letzteres war damals anders.


Thomas Klein

A.S.H. | 11.08.04 16:07 | Permalink